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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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falschem Gold, Kaugummischnalzer, der Gebetsruf aus der Ferne und schließlich und noch immer das Tamburin von Yunus.
    Tack tack ta tack trraack …
    Güldane lächelte, als sie diese Laute hörte. Unwillkürlich lächelte sie. Und kaum hatte sie gelächelt, richtete sie sich auf, schrie: »Aus dem Weeeg!« und stürzte, ohne den Klatsch ihrer Mutter auf ihren Po zu beachten, sich den Weg zwischen den Frauen freikämpfend, zuerst aus dem Haus, dann aus dem Viertel und dann auf den Müllberg.
    Dort oben angekommen, drehte sie einen leeren Ölkanister um, setzte sich darauf und versank in die Betrachtung Istanbuls. Gerüche von verfaultem Obst und säuerlichen Essensresten, verrostete Blecheimer, gleich vorne Betonhäuser mit Baustahl, hoch in die Luft ragend, Gassen, die sich aufeinandertürmen, durchlöcherte Dächer … Dieser Wald aus behelfsmäßig bei Nacht und Nebel errichteten Behausungen war Güldanes Istanbul. Wie eine Maus ernährte sie sich von diesem Dreck und je mehr sie sich davon ernährte, umso schöner wurde sie.
    Safiye und die anderen Frauen überfiel eine kurze Ratlosigkeit, als Güldane, kaum dass sie die Augen geöffnet hatte, schon wie ein Pfeil davonschoss. Dann stellte jede ihre eigene Diagnose des Geschehens. Die eine sagte, verrückt dieses Mädchen, die andere meinte, sie würde nur etwas vorspielen, eine andere fand sie launisch und wieder eine andere befand, sowas komme von zu viel Intelligenz. Wer Bescheid wusste, stocherte auch in der Kindheit Güldanes herum. Ihre Mutter hat sie viel verprügelt, sie ist prügelsüchtig geworden, sagten manche. Andere wiederum erinnerten sich, dass sie einmal kopfüber vom Baum gefallen war, und stellten fest, die Krankenhäuser seien an allem schuld. Jede, ob sie Ahnung hatte oder nicht, sprach einen Satz über Güldane. Am Ende jedes Satzes setzte Yunus mit seinem Tamburin einen Punkt.
    Sie war verrückt … tack.
    Sie war intelligent … track.
    Sie war gefallen … tack tack.
    Sie war geflogen … track.
    Sie war dies … tack.
    Sie war jenes … trraackk.
    Güldanes Mutter verschloss die Ohren vor den Worten der Frauen und öffnete sie nur für das Tamburin von Yunus. Und kaum nahm sie den Rhythmus wahr, zog sie ihre Strickjacke aus, band sie sich um und ließ ihren Bauch kreisen. Die schweren Hüften Safiyes wanden sich mit einer Grazie, die man von ihrer beachtlichen Leibesfülle nicht erwartet hätte, und brandeten gegen Felsen. Safiye wurde zu einer wogenden Welle und hörte nicht mehr auf. Dann machten es ihr alle anderen Frauen nach und ließen ihre Hüften kreisen. Alle hatten Güldane schon längst vergessen.
    Es gab einen Einzigen, der sie nicht vergaß: Yunus. Güldanes Bruder. Ein schmächtiger, elfjähriger Junge. Ein seltsames Menschenkind, das ohne zu schauen sehen und ohne Worte sprechen konnte. Yunus. Yunus der Tamburinspieler.
    Die Romafrauen beendeten ihren verschwenderischen Tanz erst, als sie zu Tode erschöpft waren, und eine nach der anderen machten sie sich auf den Nachhauseweg. Safiye verhüllte indes ihre Stirn und den schmerzenden Kopf unter einem festgezurrten Kopftuch und warf sich aufs Bett. Den Kopf auf der einen Seite, den Hintern auf der anderen, die rechte Brust an der rechten Bettkante, die linke Brust an der linken, ihre Beine und Arme überall verteilt, fiel sie in einen tiefen Schlaf.
    Als nur noch ihre Schnarchgeräusche zu hören waren, trat Yunus hinaus auf die Straße und begann, auf seinem Tamburin einen gänzlich anderen Rhythmus zu schlagen. In diesem Rhythmus gab es keine Biegung, kein Auf und Ab, keine Zierereien, keine Wut. Fast gefühllos, so gut wie eintönig, wie ein Gebot schlug er an den Rand der Trommel. Das Gebot betraf Güldane. Die Jünglinge des Viertels mit noch frischem Flaumbart erreichte trrack! die Botschaft. Niemand ließ sich etwas anmerken. Niemand sah dem anderen in die Augen. Während Yunus zwischen ihnen hindurchlief, vorbei am Krämerladen, um die Ecke der Gasse, zwischen den Häusern, über matschige Wege, ohne jemanden anzuschauen. Immer den gleichen nervenden Ton auf den Rand seines Tamburins schlagend, zog er seine Runden. Die jungen Kerle waren an jenem Abend früh mit dem Essen fertig, sie wuschen sich im Bad und schmierten sich eine gehörige Portion Gel in die Haare.
    Güldane saß noch auf dem Müllberg, während das alles geschah. Sie saß da und machte gerade Pläne aus Schrott und Scherben für ihr Leben, als sich der Wind drehte. Mit dem Nordostwind entfernten sich
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