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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort
Autoren: Dieter Wellershoff
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Strohfeuer erloschen waren. Eschweilers Befürchtung und auch seine eigene, die Bestattung
     von Karbe auf dem allgemeinen Friedhof des Ortes würde Anstoß erregen und vielleicht sogar zu Übergriffen führen, hatte sich
     als gegenstandslos erwiesen. Zunächst hatte allerdings allein die Tatsache, dass ein schon bezahltes Grab vorhanden war, sie
     davon abgebracht, nach Alternativen zu suchen. Eschweiler hatte den Friedhofsdiener angewiesen, den unteren Teil des Tiefgrabes
     nicht auszuheben und den Kiefernsarg mit einfacher Dekoration kurz vor der Bestattung in der Trauerhalle bereitzustellen,
     falls gegen die Erwartung irgendwelche |294| Trauergäste kamen. Aber es kam niemand. Auch Eschweiler, der erst zugesagt hatte zu kommen, ließ sich kurz vorher entschuldigen.
     So ging er allein den kurzen Weg zur Grabstelle hinter dem Rollwagen her, wartete dort in einigem Abstand, während die Friedhofsdiener
     den Sarg an Seilen in die Grube hinabließen und dann beiseitetraten und ihre Mützen abnahmen, was für ihn das Zeichen war,
     an die Grube heranzutreten, ein Gebet zu sprechen, eine Schaufel von der ausgehobenen Erde auf den Sarg zu werfen und sich
     abzuwenden und zu gehen. Hinter ihm hatten die Friedhofsdiener unverzüglich damit begonnen, das Grab zuzuschaufeln. Es war
     Routine, auch für ihn. Aber noch nie hatte er ein solches Gefühl von Endgültigkeit gehabt.
     
    Danach herrschte Ruhe in der Gemeinde, ein Stillschweigen im Gleichmaß der Alltäglichkeiten: Hochzeiten, Taufen, Sterbefälle.
     Die regelmäßigen Gottesdienste in den zwei Kirchen, die zur Gemeinde gehörten. Die Sprechstunden, der Konfirmandenunterricht,
     der anschwellende Verwaltungskram und die Vorbereitung der nächsten Sitzung des Presbyteriums, an der zum ersten Mal zwei
     neue Mitglieder teilnahmen: das Veranstaltungskonzept für das kommende Jahr sollte besprochen werden. Leider gab es zwei weitere
     Kirchenaustritte, aber auch einen warmen Geldsegen von Hermann Sievert zur Sanierung des maroden Glockenstuhls und der Turmbedachung.
     Außerdem hatte er sich aufgerafft, den Aktenfriedhof im Dachgeschoss des Pfarrhauses zu sichten und |295| das meiste zu vernichten. Er war noch nie so aktiv gewesen wie jetzt. Und manchmal, wenn er von der einen Tätigkeit zur nächsten
     wechselte, hatte er das Gefühl, dass er mit allem, was er tat, einen Schutzwall gegen eine ständig drohende Formlosigkeit
     und einen schleichenden Verfall zu errichten versuchte. Natürlich war das Unsinn, ein Hirngespinst, das er zurückweisen musste.
     Das war nicht immer einfach, weil er zu isoliert lebte in all seiner Geschäftigkeit. Doch daran war nichts zu ändern. Er wusste
     nicht, wie. Er dachte manchmal an seine fehlgeschlagene Reise nach Hamburg und schüttelte den Kopf über sich. In was für eine
     versponnene Idee hatte er sich da verwickelt, und wie lächerlich war seine Flucht gewesen. Er hatte danach noch zweimal angerufen.
     Aber da sie beide Male nicht zu erreichen war, hatte er es dabei belassen. Als er noch einmal in einen ihrer Briefe geschaut
     hatte, schien der Sinn ihrer Worte sich verflüchtigt zu haben, und er hatte das Briefbündel wie ein altes, schon vergessenes
     Andenken beiseitegelegt. Aber eines Tages lag unter der täglichen Dienstpost ein Brief aus Argentinien, und er erkannte ihre
     Schrift, die sich allerdings verändert hatte. Sie wankte, als fehle ihr der Halt. Mit einem bangen Vorgefühl nahm er den Brief
     aus dem Poststapel und ging damit in sein Zimmer.
    Sie schrieb, dass sie nach seinem Verschwinden tagelang wie leblos gewesen sei und auch ihre Arbeit im Konsulat nicht tun
     konnte. Vorübergehend habe sie auch nichts mehr gegessen. Deshalb sei sie zu ihrem Mann nach Argentinien zurückgekehrt. Sie
     lebe jetzt im Gartenhaus, weil ihr Mann im Haupthaus mit |296| einer jüngeren Frau lebe. Aber das mache ihr nichts. Sie sei umgeben von Blumen und höre viel Musik. Trotzdem sei sie noch
     wie betäubt. Sie wisse, dass sie versagt habe und ihm alles schuldig geblieben sei. Und sie bitte ihn, ihr zu verzeihen.
    Auf ihre seltsam geschrumpfte Unterschrift folgte noch ein angehängter Text, der sich wie ein kurzes Aufblühen von Hoffnung
     las, aber gleich wieder schloss. »Wenn ich in meinem Garten sitze, denke ich manchmal, dass ich dich vielleicht küssen könnte,
     wenn du hier wärst. Aber ein Trost ist das nicht.«
    Wie gelähmt saß er vor dem Brief, den er vor sich auf die Tischplatte gelegt hatte, als Frau Meschnik
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