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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort
Autoren: Dieter Wellershoff
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versiegen und zu verschwinden. Einen Augenblick lang hörte er nichts. Dann begann es wieder wie ein
     trotziges Aufbegehren.
    Bald wird sie kommen, dachte er. Ich werde stumm die Decke anheben, und sie wird zu mir schlüpfen und sich an mich drängen,
     und so werden wir daliegen. Alles würde stimmen, alles würde richtig sein. Genauer konnte er es sich nicht vorstellen. Es
     blieb dem wirklichen Augenblick vorbehalten, auf den er wartete. Manchmal hörte er die Musik nicht mehr. Dann war sie wieder
     da. Vielleicht hatte er einen Augenblick geschlafen. Die Musik schien flacher geworden zu sein. Ferner gerückt. Ein Gewebe,
     das sich auflöste in verschwimmende, wegtreibende Fetzen.
    Als er wieder wach wurde, war es still, und das erste Dämmerlicht stand im Raum. Sie war nicht gekommen. Sie hatte ihr Versprechen
     nicht eingelöst. Er musste sich erst rüsten, um diese Erkenntnis festzuhalten. Nach einer Weile stand er auf und ging in den
     Wohnraum, wo sie zusammengekauert in ihrem Sessel saß. Er hatte den Eindruck, dass sie geweint hatte. Das Gesicht, das sie
     ihm zuwandte, als er vor ihr stand, war bleich und aufgelöst. »Verzeih mir«, sagte sie, »ich konnte nicht.«
    Er fragte nicht, warum, sondern führte sie zum Badezimmer. Sie wirkte völlig ausgekühlt und starr. »Jetzt kannst du gleich
     in deinem Bett schlafen«, sagte er. »Ich lass dich in Ruhe.«
    |288| »Verzeih mir«, sagte sie wieder.
    Er antwortete nicht darauf, sondern holte seine Kleider aus dem Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Er hörte sie hinter sich
     aus dem Badezimmer kommen. Ein schlurfender Schritt, ein unsicheres Tasten. Er drehte sich nicht danach um. Im Wohnzimmer
     zog er sich an und setzte sich in einen der Sessel, noch benommen von seinem kurzen Schlaf und in fast völliger Gedankenleere.
     Die Gedanken, die ihm kamen, zerfielen gleich wieder und ließen nur Unruhe in ihm zurück. Allmählich wurde es hell. Die Straßenbeleuchtung
     war schon erloschen. Das Zimmer hatte sich in den Anblick des gestrigen Nachmittags zurückverwandelt. Hier war er gestrandet.
     Es kam ihm so vor, als wäre er in eine Falle geraten, eine aus fremden und eigenen Sehnsüchten zusammengesetzte Falle. Es
     war lächerlich, ein Irrtum, den er nicht länger fortsetzen sollte, keine weitere Stunde mehr. Sie schlief noch, wahrscheinlich
     noch lange. Und wenn sie aufwachte, würden sie beide weitermachen und sich wieder in ihren Zwängen verfangen. Dazu war er
     nicht bereit.
    Leise, um sie nicht zu wecken, holte er sein Waschzeug aus dem Badezimmer und packte es in seinen Koffer. Im Flur neben dem
     Telefon steckten auf einem Spieß zugeschnittene Notizzettel. Er nahm sich einen, um einen Abschiedsgruß und eine Erklärung
     für sie zu hinterlassen. Aber was er geschrieben hatte, kam ihm falsch und unzulänglich vor. Und es war auch kaum leserlich.
     Er wollte es in den Mülleimer werfen. Aber dort würde sie den Zettel vielleicht finden |289| . Also knüllte er ihn zusammen und steckte ihn in seine Hosentasche. Auch seine weiteren Versuche zerknüllte er. Plötzlich
     bekam er Angst, sie würde im nächsten Augenblick hereinkommen und bleich und mit entsetzten Augen in der Tür stehen und erkennen,
     dass er dabei war, sie zu verlassen. Ja, es war eine schäbige Flucht, aber er konnte sich nicht mehr anders entscheiden. Hastig
     griff er einen letzten Zettel und schrieb mit fliegender Hand: »Verzeih mir! Ich bin gefahren. Ich melde mich wieder.«
     
    Als er im Auto saß, aus der Einbahnstraße hinausfuhr und sich an den Weg zur Autobahn zu erinnern versuchte, den er gestern
     gekommen war, spürte er das heftige Schlagen seines Herzens, ein wildes Pochen hinter der Brustwand. Er konnte sich kaum konzentrieren.
     Einmal hupte jemand laut hinter ihm her, dem er die Vorfahrt genommen hatte. Entschuldigung, dachte er, aber er begriff, dass
     er es nur ihr sagte, die er verlassen hatte, während sie ahnungslos in tiefem Schlaf lag. Feige und unfair verlassen hatte.
     Schamlos und beschämend. Weil er gekränkt war, sich verletzt und getäuscht gefühlt hatte und vollkommen versagt hatte in der
     selbst geschaffenen Situation, diese verletzte Frau verstehen zu müssen und ihr Zeit zu lassen auf dem für sie so heiklen
     und schwierigen Weg zurück ins Leben. Vielleicht war sie gerade aufgestanden und suchte ihn, dachte vielleicht, er sei spazieren
     gegangen, und fand dann seinen Zettel, diese schmachvolle, dürftige Hinterlassenschaft, ein Dokument
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