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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort
Autoren: Dieter Wellershoff
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Aufzug zu ihrer Wohnung hochfuhren, spürte er plötzlich, wie müde er war. Die letzte Nacht
     war kurz gewesen. Und die schreckliche Autobahnfahrt und der Nachmittag und Abend hatten ihn anscheinend sehr angestrengt.
     Ihm war auf einmal schwindelig, sodass er seine linke Hand Halt suchend nach der Wand ausstreckte.
    »Was hast du?«, fragte sie.
    »Nichts. Ich muss mich nur einen Augenblick hinlegen.«
    »Ja, mach das. Leg dich im Wohnzimmer auf die |281| Couch. Ich will sowieso erst ins Badezimmer und mich umziehen.«
    Aber statt zu gehen, trat sie näher an ihn heran und schaute ihm eindringlich ins Gesicht.
    »Ich hab dich sehr angestrengt heute Abend. Entschuldige.«
    »Keine Ursache«, sagte er kurz, im Wunsch, dass sie gehen möge.
    »Soll ich dir etwas zu trinken bringen?«
    »Ein Glas Wasser wäre gut.«
    »Dann leg dich jetzt bitte hin. Ich bring es dir. Kannst du gehen?«
    »Ja, sicher«, sagte er und wandte sich ab, hörte sie eilig in die Küche gehen.
    Da die Gardinen beiseitegezogen waren, fiel genug Licht von der Straßenbeleuchtung in das Wohnzimmer. Es war genau das richtige
     Halbdunkel, um sich hinzulegen und die Augen zu schließen. Er streifte die Schuhe von den Füßen, zog sein Jackett aus und
     warf es über die Lehne des nächsten Sessels, bevor er sich auf der Couch ausstreckte.
    Schon besser, dachte er.
    Kurz danach kam sie mit einem Glas Wasser herein und setzte sich neben ihn auf die Couchkante.
    »So, trink jetzt«, sagte sie, »dann wird dir gleich besser.«
    Er richtete sich halb auf und trank, gab ihr dann das fast leere Glas zurück, um sich wieder auszustrecken. Sie blieb neben
     ihm sitzen und beugte sich über ihn, um ihn ruhig anzusehen. »Mi querido«, sagte sie leise. Im dämmerigen Halbdunkel des Zimmers
     wirkte |282| ihr Gesicht sanft und geglättet und bis zur Formelhaftigkeit vereinfacht. Nichts erinnerte mehr an das Schreckgesicht mit
     den aufgerissenen Augen, den hervortretenden Halssehnen und den tief eingekerbten Leidensfalten, das ihm beim Abendessen über
     den Tisch hinweg angestarrt hatte, als bedrohe er sie oder würde unerreichbar von ihr fortgerissen.
    Nun, da er hier lag und sie bei ihm saß, schien ihre Angst nicht nur verflogen, sondern auch vergessen zu sein.
    Seltsam, dachte er, das ist der Weg, sich ihr zu nähern und ihr die Angst zu nehmen. Ihr Mann muss völlig anders mit ihr umgegangen
     sein.
    »Ich danke dir«, sagte sie. »Ich hab dich furchtbar genervt. Und du warst so verständnisvoll und so beschützend.«
    Es lag ihm auf der Zunge zu sagen: »Ist ja mein Beruf.«
    Doch er konnte es vermeiden. Es wäre für sie eine Zurückweisung gewesen, denn sie hatte begonnen, sich ihm vorsichtig zu nähern
     und zu öffnen, was offensichtlich schwierig für sie war. Vielleicht war deshalb das Schreiben von Briefen der ideale Ausweg
     für sie gewesen, weil sie dabei mit sich alleine war. Er war für sie aus irgendwelchen Gründen ihr Adressat geworden. Dass
     er tatsächlich gekommen war, um auf ihre Phantasien einzugehen, war nicht nur unerwartet für sie, sondern auch beängstigend.
     Aber war es ein Missverständnis? Das glaubte er nicht. Er selbst war losgefahren, als sich seine Gedanken und Gefühle unerwartet
     geordnet hatten. Durch den unsäglichen Vortrag |283| und eigentlich durch die ganze Tagung war ihm klar geworden, dass er eine deutliche Unterscheidung suchte, die Überschreitung
     der Grenzen, in denen er bisher gelebt hatte. Er hatte sich vorgestellt, dass er das durch sie oder bei ihr finden könnte.
    »Ich weiß nicht, wie du es gesehen hast«, sagte sie.
    Sie sprach von dem Restaurant, in dem sie so lange nicht mehr gewesen war. Zum letzten Mal vor acht oder neun Monaten mit
     Kollegen. Damals sei es ihr ganz anders vorgekommen. »Die Tische waren nicht alle besetzt, und sie standen nicht so dicht
     beieinander wie heute Abend.«
    »Es war normal«, sagte er.
    »Ich fühlte mich von allen Seiten beobachtet und belauscht.«
    »Du warst ja auch eine auffallende Erscheinung.«
    »Ich glaube, sie haben über uns geredet, über dieses seltsame ungleiche Paar. Vielleicht haben sie mich für deine Mutter gehalten.«
    »Wie eine Mutter hast du nicht gerade ausgesehen.«
    »Aber ich habe gedacht, dass dir alles peinlich war.«
    »Es war ungewöhnlich. Aber es war aufregend.«
    »Auch das macht mir Angst.«
    »Warum?«
    »Weil … Weil es unbeherrschbar ist. Ich kenn mich nicht aus im Leben wie andere erwachsene Menschen.«
    »Ich auch nicht.
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