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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort
Autoren: Dieter Wellershoff
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seines menschlichen Versagens.
    |290| Jetzt war er auf der Autobahn, hatte sich in die Überholspur eingeordnet und fuhr schneller, als er es gewohnt war, um weiter
     wegzukommen vom Ort seines Versagens, aber auch um die Gegenstimme zu übertönen, die in ihm zu reden begonnen hatte und fortwährend
     sagte: »Du musst wenden und sofort zurückfahren! Du musst alles wieder richtigstellen und ein Unglück verhindern!« Doch er
     fuhr unentwegt weiter in dem hohen Tempo, das ihm hier auch von allen anderen auferlegt war, und statt der Stimme zu folgen,
     begann er sich zu überreden: »Ich kann doch anrufen. Ich werde mit ihr reden. Ich werde alles in ein anderes, besseres Licht
     rücken. Ich werde so lange mit ihr reden, bis ich sie beruhigt habe.«
    Beim nächsten Rasthof fuhr er hinaus, holte ihren Brief mit ihrer Telefonnummer aus dem Koffer und ging in das Restaurant,
     das um diese Zeit noch fast leer war. Entschlossen stellte er sein Handy an und wählte ihre Nummer. Das Rufzeichen ertönte,
     und seine Angst wuchs. Es war zuerst die Angst vor ihrer Stimme. Dahinter drängte sich die düstere Angst vor ihrem Schweigen
     vor. Nein, sie sprach nicht. Nicht mit ihm! Überhaupt nicht mehr? Umkehren, dachte er. Sofort umkehren! Aber er saß festgenagelt
     auf seinem Stuhl. Als sei es ein Ausweg oder der Ansatz einer Lösung, fiel ihm ein, zu Hause anzurufen. Im Büro und im Gemeindehaus
     war um diese Zeit niemand. Allerdings hatte er die Nummer von Frau Meschniks Handy. Er wollte ihr mitteilen, dass er zurückkam.
    Auch hier empfing ihn langes Schweigen. Dann hörte er ihre verschlafene Stimme. Es war immerhin ein |291| Austausch: eine andere Frau, die sich von ihm wecken ließ, anstelle der schweigenden, der verstummten. Sie war überrascht,
     dass er zu so ungewohnter Zeit anrief. Aber sie war froh, dass er sich meldete. Denn sie hatte seit gestern vergeblich versucht,
     ihn zu erreichen. Sie hatte es in der Akademie versucht, weil sein Handy ausgeschaltet war. Aber dort sei er nicht zu finden
     gewesen. Und niemand hatte Bescheid gewusst. Nun konnte sie es ihm ja endlich sagen: »Karbe ist tot.«
    »Was?«, sagte er. »Wie denn das?«
    »Er hat sich umgebracht. Polizeimeister Pfeiffer hat ihn bei einem Kontrollgang gefunden. Er lag tot in der gefüllten Badewanne,
     wahrscheinlich schon seit zwei Tagen. Er hat den laufenden Fön ins Wasser geworfen.«
    »Das muss ein schrecklicher Tod sein, wie eine Selbsthinrichtung auf dem elektrischen Stuhl.«
    »Darüber wird viel geredet hier. Jeder sagt was anderes. Übrigens hat er vorher noch sein schriftliches Einverständnis damit
     erklärt, dass der Junge nicht mehr länger künstlich beatmet wird. Er war im Krankenhaus und hat das Papier unterschrieben.
     Anschließend ist er nach Hause gegangen und hat sich umgebracht.«
    »Was sagen die Leute dazu?«
    »Viele halten es für ein Schuldbekenntnis. Aber irgendwie sind die meisten still. Die Familie Sievert wird jetzt den Leichnam
     des Jungen zur Beerdigung bekommen. Und auch den Leichnam von Kerstin Karbe. Beide sollen dort im Familiengrab beigesetzt
     werden. Nur Karbe bleibt hier.«
    |292| Sie machte eine Pause. Dann fragte sie: »Sie werden also heute kommen?«
    »Ja«, sagte er. »Ich bin schon unterwegs.«
    »Das ist gut«, sagte sie. »Ihrem Stellvertreter wachsen die Dinge hier über den Kopf. Er hat große Angst vor dem heutigen
     Gottesdienst. Irgendwie muss er ja etwas zu den Ereignissen sagen.«
    »Natürlich«, sagte er.
    »Herr Eschweiler hat auch schon nach Ihnen gefragt. Wegen der Beerdigung von Karbe.«
    »Sagen Sie ihm, ich komme. Und ich danke Ihnen, Frau Meschnik. Bis bald.«
    Als das Gespräch beendet war, fühlte er sich vollkommen leer. Alles war, wie es war. Zu ändern war nichts. Plötzlich spürte
     er, dass er etwas essen musste, um nicht umzukippen. Die erbärmliche Unbelehrbarkeit des Lebens, dachte er. Gut, dass es sie
     gab.

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|293| IX
    KARBES BEERDIGUNG WAR im Mitteilungsblatt der Friedhofsverwaltung zwar angezeigt worden, fand aber zu einer frühen Vormittagsstunde
     ohne jede öffentliche Beteiligung statt. Verwandte hatte man bei der Durchsicht von Karbes Wohnung nicht ausfindig machen
     können, und die Gemeindemitglieder hatten sich ferngehalten, als scheuten sie jede Art von Nähe zu diesem Menschen, den keiner
     von ihnen gekannt hatte und der allen unheimlich war. Nach seinem Selbstmord hatte es wilde Spekulationen gegeben, die aber
     bald nach der Beerdigung wie ein
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