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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort
Autoren: Dieter Wellershoff
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ich«, sagte sie. »Ich hab auch gezweifelt, ob ich dir so schreiben durfte.«
    »Es waren wunderbare Briefe.«
    Beide schwiegen sie eine Weile. Dann fragte er: »Warum hast du eigentlich deinen Mann verlassen?«
    »Weil er mich von Anfang an betrogen hat. Aber ich möchte nicht darüber sprechen.«
    »Warum nicht?«
    »Ich möchte nicht darüber sprechen. Und ich möchte auch nicht hierbleiben.«
    »Wieso nicht?«, fragte er erschrocken. »Unser Essen kommt doch gleich.«
    »Ich kann nichts essen«, sagte sie.
    »Soll ich es wieder abbestellen?«, fragte er schroff. Wieder erschien der ängstliche, gehetzte Ausdruck in ihrem Gesicht.
    |278| »Nein, bitte nicht! Du musst doch etwas essen.«
    »Denkst du, ich würde allein essen und du schaust mir zu?«
    »Lass es jetzt. Es ist ja sowieso zu spät.«
    Er schaute vor sich auf den Tisch, um nicht weiter in ihr verstörtes, ratloses Gesicht zu sehen. An den Nachbartischen waren
     die Gespräche verstummt.
    »Okay«, sagte er, »beruhige dich.«
    »Ich war nicht die richtige Frau für meinen Mann«, sagte sie. »Aber ich hatte immer Angst, zurückgewiesen zu werden. Deshalb
     habe ich versucht, alles noch einmal anders und besser zu machen.«
    »Verstehe«, sagte er.
    Er wusste nicht, was sie gemeint hatte. Vielleicht die Briefe, die sie ihm geschrieben hatte.
    Das Essen wurde serviert. Sie schaute darauf wie auf eine unlösbare Aufgabe, während er zu essen begann. Eine Zeit lang versuchte
     er, sie in Ruhe zu lassen. Da war irgendeine Schwelle, über die sie nicht hinwegkam, eine Angst, die sie umklammert hielt.
    »Versuch es doch mal«, sagte er. »Es ist sehr gut.«
    Sie hatten beide gedünsteten Zander bestellt. Ein leichtes Essen. Dazu einen Weißwein. Er hob ihr sein Glas entgegen.
    »Trink erst mal«, sagte er, und sie folgte ihm, nahm einen Schluck und einen zweiten, stellte das Glas wieder hin und begann
     zögernd zu essen.
    Er spürte, wie er sich entspannte. Ich muss mich neu auf sie einstellen, dachte er. Ich habe mir vorgestellt, alles wäre im
     Voraus geklärt und ausgemacht. Aber das war dumm von mir.
    |279| Der Ober, der vielleicht ihr seltsames Verhalten beobachtet hatte, kam an den Tisch und fragte, ob alles zur Zufriedenheit
     sei.
    »Ja, danke«, sagte er kurz.
    Er wunderte sich über seine eigene Stimme, denn es hatte geklungen, als hätte er gesagt: Verschwinden Sie!
    Allmählich ließ der Druck der Umgebung nach. Sie hatte langsam weitergegessen, jedenfalls so viel, dass der übrig gelassene
     Rest keine Provokation war.
    »Möchtest du noch ein Dessert oder einen Kaffee?«, fragte er.
    »Nein, ich möchte nur nach Hause.«
    Das entsprach auch seinem Wunsch.
    Als der Ober kam, um abzuräumen und nach weiteren Wünschen fragte, sagte er: »Bringen Sie uns die Rechnung.«
    Sie hatte stumm zugesehen. Und als der Ober gegangen war, sagte sie leise »Danke«.
    »Wir können ja auch bei dir noch etwas trinken«, sagte er, nur weil er noch etwas sagen wollte, was sie beruhigte. Sie sah
     erschöpft und apathisch aus. Doch als der Ober in einer kleinen schwarzen Ledermappe die Rechnung auf ihren Tisch legte und
     wieder verschwand, wachte sie aus ihrer Trance auf, griff nach ihrer Handtasche, legte einen großen Schein in die Mappe und
     schob sie ihm hin.
    »Mach du das bitte«, sagte sie.
    Momentweise hatte er das Gefühl, es mit zwei verschiedenen Frauen zu tun zu haben, die sich gegenseitig verdunkelten und ihn
     orientierungslos zurückließen |280| . Es kam ihm so vor, als wate er weit vom festen Land entfernt durch steigendes Wasser und sei in Gefahr, die Richtung zu
     verlieren. Gerade eben aber hatte sie umsichtig und entschlossen reagiert, und er hatte ihre Hand greifen und festhalten wollen,
     wie er es im Taxi getan hatte. Doch es war ihm gleich wieder eingefallen, dass sie – dieses seltsame, auffallende Paar eines
     vergleichsweise jungen Mannes mit einer viel älteren, eleganten, aber offenbar verstörten Frau – von den Gästen an den Nachbartischen
     beobachtet wurden, und er hatte es unterlassen. Er winkte den Ober an ihren Tisch, indem er die Rechnungsmappe hob und sagte:
     »Rufen Sie uns bitte ein Taxi.«
    »Sofort«, sagte der Ober und verschwand. Sie mussten lange warten, was er genauso schlecht aushielt wie sie, die ihm reglos
     und blass gegenübersaß. Dann kam der Ober mit dem Wechselgeld zurück und sagte: »Ihr Taxi ist da.« Wortlos und eng aneinandergedrängt
     fuhren sie zurück.
     
    Als sie ausstiegen und mit dem
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