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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort
Autoren: Dieter Wellershoff
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Distanz halten? Oder war sie unentschieden und forderte ihn immer wieder heraus? Es kam
     ihm so vor, als trieben sie in einem unsichtbaren Strom und wären genötigt, sich aneinander festzuhalten.
    Sie bearbeitete die Fingernägel seiner beiden Hände mit professioneller Aufmerksamkeit. Über ihren Schoß hatte sie das Handtuch
     ausgebreitet. Ihre Knie waren verdeckt. Sie saß mit vorgeneigtem Kopf dicht neben ihm, und er konnte sie ungestört anschauen,
     weil sie ganz auf ihre Arbeit konzentriert schien. Sie war ihm zugleich entzogen und nah. Zum Greifen nah und unberührbar.
     Indem sie geduldig, als sei es eine Liebhaberei von ihr, Finger für Finger bearbeitete, hielt sie ihn in dieser Situation
     fest. Das Spiel schien zu heißen: Du bist mein Eigentum. Ich pflege dich. Ich widme mich dir. Ich teile mich dir mit. Und
     ich halte dich in meiner Nähe fest.
    In welcher Verfassung sie war, vermochte er nicht zu erkennen. Der Strom, der in ihm kreiste, ging vielleicht auch durch sie
     hindurch. Aber sie gab es nicht |272| zu erkennen, so beschäftigt wie sie war. Er fragte sich, ob diese intime Zeremonie eine erotische Routine oder ein intuitiver
     Einfall von ihr war. Sein Part in diesem Spiel war jedenfalls, es wortlos geschehen zu lassen.
    Schließlich brach sie ab und sagte: »So, schau es dir an.«
    »Fabelhaft«, sagte er. »Das ist ein Kunstwerk.«
    »Dann können wir ja jetzt zum Essen fahren.«
    Sie faltete vorsichtig das Handtuch mit den abgefeilten Nagelresten zusammen und stand auf, um es zusammen mit dem Necessaire
     ins Badezimmer zu bringen.
    »Ich hol eben meinen Koffer rauf«, rief er hinter ihr her. »Ich will mir ein frisches Hemd anziehen.«
    Als er unten auf der Straße den Koffer aus dem Heckraum seines Auto hob, musste er an seinen stürmischen Aufbruch aus der
     Akademie und an seine hindernisreiche, stockende Autobahnfahrt denken. Es kam ihm sehr weit weg vor, wie aus einem anderen
     Leben. An seine Gefühle und Gedanken erinnerte er sich wie an eine andauernde Verwirrung. Inzwischen war es dunkel geworden,
     und die Straßenbeleuchtung hatte sich eingeschaltet. Ihr Licht glänzte matt auf dem Lack der geparkten Autos. Die Reihen hatten
     sich wieder aufgefüllt. Menschen waren nirgendwo zu erblicken. Er war allein in dieser stillen abendlichen Szenerie, aus der
     sich das Leben in die Häuser zurückgezogen hatte, um dort wie immer weiterzugehen. Auch er wurde erwartet. Auch er war Bestandteil
     eines Abendplans aus der Phantasie einer Frau, die er, |273| wenn er mit sich allein war, nie mit ihrem Namen benannte. Es gelang ihm nicht, ihre Unbestimmtheit mit einem Etikett zu versehen.
     Er wollte es auch nicht. Während er mit seinem Koffer quer über die Straße auf ihr Haus zuging, sah er, dass im zweiten Stock
     die ganze Fensterfront ihrer Wohnung hell erleuchtet war. Es wirkte wie ein festliches Signal oder wie der Ausdruck der panischen
     Konfusion einer unruhig in den Räumen hin und her eilenden Frau, die sich auf etwas vorbereitete, was für sie zugleich erwünscht
     und beängstigend war. Zu seiner Überraschung dachte er: Sie ist einfach zu viel für mich.
     
    Diesmal stand sie nicht in der Wohnungstür, als er mit seinem Koffer aus dem Aufzug trat. Aber die Tür stand einladend offen.
     Anscheinend hatte sie nach seinem Klingeln nur rasch auf den Türöffner gedrückt und war wieder verschwunden, weil sie mit
     etwas anderem beschäftigt war. Vielleicht war sie im Badezimmer. Er stellte den Koffer in der Diele ab und ging in das angrenzende
     Wohnzimmer. Auf dem Tisch standen noch Reste des Teegeschirrs. Er überlegte, ob er sich setzen sollte. Aber irgendwie sah
     er sich nicht in diesem Bild und trat ans Fenster, um in das erleuchtete Laub der Platane zu blicken. Da hörte er sie hinter
     sich hereinkommen. Sie hatte sich in der Eile umgezogen und zurechtgemacht, und wie zu einem Bild verwandelt stand sie dort,
     um sich ihm zu zeigen. Sie trug ein enges dunkelrotes Seidenkleid mit einem eingewebten schwarzen Rosenmuster. Dazu hatte
     sie kostbaren Schmuck angelegt – eine goldene |274| Halskette mit einem Anhänger und ein schmales goldenes Armband. Außerdem trug sie ungewöhnliche Ohrgehänge mit hellen Steinen.
    »Donnerwetter«, sagte er. »Was hast du vor?«
    »Ich will mit dir ausgehen«, sagte sie.
    »Was muss ich mir vorstellen? Wo gehen wir hin? Da wird man mich vielleicht gar nicht reinlassen.«
    »Das Lokal ist ganz normal. Ich habe mich nicht wegen des Lokals
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