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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort
Autoren: Dieter Wellershoff
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Ich hab im Wesentlichen in vorgegebenen Formen und Konventionen gelebt und versucht, damit zurechtzukommen.
     Manchmal mehr schlecht als recht.«
    |284| »Aber du hast wunderbar über Vertrauen und Selbstvertrauen gesprochen. Damals dachte ich, dass das ein Fingerzeig für mich
     sei«.
    »Wozu?«
    »Das eigene Leben zu wagen.«
    »Du warst doch schon von zu Hause weggegangen.«
    »Ja. Aber das war nur ein erster Schritt. Ein Schritt ins Leere. Was dazukommen muss, ist ein neues Gefühl. Ein neues Selbstgefühl.«
    Sie schwieg einen Augenblick, während er dachte, dass das auch sein Gedanke sei. Aber eben nur ein Gedanke. Dann sagte er:
     »Was ich damals in der Predigt gesagt habe, waren lauter geläufige Formeln aus dem Seminar. Da war nicht viel Erfahrung dahinter.«
    »Aber ich hab gespürt, dass du es ernst meintest.«
    Sie sah ihn nachdenklich an. Dann sagte sie: »Du solltest viel besser von dir denken, als du es tust.«
    »Das hat mir noch niemand gesagt.«
    »Dann glaub es bitte mir«, sagte sie.
    »Ich werd darüber nachdenken. Falls Nachdenken etwas nützt.«
    »Ruh dich lieber aus. Ich werd jetzt erst einmal duschen und mich umziehen.«
    Damit beugte sie sich vor, um ihn flüchtig auf die Wange zu küssen, und ging.
    Er schaute ihr nach. Er wusste nicht, was in ihr vorging und woran er mit ihr war. Genauso wenig wusste er, woran er mit sich
     selber war.
    |285| Als sie zurückkam, war er eingeschlafen. Er wurde wach durch das Gefühl einer fremden Anwesenheit. Dann sah er sie, eine Gestalt
     in einem dunklen bodenlangen Kleid. Sie hatte ihren Sessel der Couch zugedreht, auf der er lag, und saß bei ihm, um ihn anzuschauen.
     Das jedenfalls sagte sie, als er hochschreckte und fragte: »Was ist?« Wie lange sie schon da saß und wie spät es überhaupt
     war, wusste er nicht. Er hatte nur das unbestimmte Gefühl, dass die Zeit sich ohne ihn weiterbewegt hatte, während er dort
     lag. War es später Abend oder schon Nacht? Der Raum hatte sich nicht verändert, sah aber fremd aus. Gebrochen durch das Laub
     der Baumkronen drang der Lichtschein der Straßenlampen von unten herauf und haftete blass und fleckenhaft an den Wänden und
     der Zimmerdecke. War es dieses geisterhafte Licht, das die dunkle Frauengestalt im Augenblick des Erwachens so bedrohlich
     erscheinen ließ?
    »Soll ich Licht machen?«
    Die Stimme war sanft, eine behütende Stimme.
    »Ja bitte«, sagte er.
    Sie griff nach dem Lichtschalter der Stehlampe, und ihr dunkles Kleid verwandelte sich in ein blaugrünes Schuppenmuster. Ihre
     Haare waren aufgelöst, und ihr Gesicht erschien ihm blass. Er hatte sich ruckartig aufgesetzt und mit dem Handrücken seine
     Augen gerieben.
    »Entschuldige!«, sagte er. »Ich bin plötzlich tief eingeschlafen. Ich weiß auch nicht, warum.«
    »Du bist erschöpft von allem, was du hinter dir hast in der letzten Zeit.«
    |286| »Leider nicht ganz hinter mir.«
    »Wenn du schlafen willst … mein Bett ist frisch bezogen für dich.«
    »Und was ist mit dir? Kommst du auch ins Bett?«
    Sie schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: »Ich möchte noch Musik hören. Das mache ich immer vor dem Schlafengehen.«
    »Dann komm gleich danach.«
    »Ich weiß nicht, Lieber. Es ist sehr eng.«
    »Das macht doch nichts. Das ist doch gerade gut.«
    »Vielleicht komme ich. Aber nur, wenn du dir nicht so viel versprichst. Was man sich sehnlich wünscht, kann ja so zerstörerisch
     sein. Es ist sehr lange her, dass ich zum letzten Mal mit meinem Mann geschlafen habe. Und das waren keine guten Erfahrungen
     mehr.«
    »Komm einfach ins Bett. Und dann nehmen wir uns in die Arme.«
    Sie lächelte. Es war ein wehmütiges oder schmerzliches Lächeln. Aber ihr Blick war voller Zärtlichkeit.
    »Du bist ja ein solcher Schatz«, sagte sie.
    »Gut, dann schlaf ich schon eine Runde. Du hörst deine Musik, und dann kommst du.«
    Bevor er ging, küsste er sie, nicht fordernd, sondern sanft, zur Besiegelung ihres Einverständnisses. Er dachte an sie, während
     er sich auszog und wusch und sich dann nebenan in ihrem Schlafzimmer in das aufgedeckte Bett legte und das Licht löschte.
     Im Wohnraum war Musik zu hören, irgendein klassisches Streichquartett, das er nicht kannte, aber manchmal doch an Einzelheiten
     zu erkennen glaubte, bis er gleich darauf den Faden wieder verlor. Es war ein |287| unstetes Gewoge von Klängen, das sich im Wechsel der Tonarten zu flüchtigen Zusammenhängen formte und wieder auseinanderfiel.
     Manchmal schien es zu
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