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Der heilige Erwin und die Liebe

Der heilige Erwin und die Liebe

Titel: Der heilige Erwin und die Liebe
Autoren: Jasna Mittler
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unsichtbare Wolke schwebt Er hinter dem Jungen her. Nachdem sie um die nächste Straßenecke gebogen sind, wird das Kind langsamer und bleibt schließlich stehen. Seine Ohren glühen rot, sein Atem geht schnell.
    Â»Besonders sportlich ist er wohl nicht«, stellt Gott fest.
    Jetzt, wo der Junge zur Ruhe kommt, kann Gott sich ganz auf ihn konzentrieren. Er spürt, wie eine Welle der Verlegenheit das Kind durchfährt. Unsicherheit und Selbstzweifel. Und darunter, wie ein Pflänzchen unter einer Schicht von Schnee: seine heimliche Liebe zu dem Nachbarmädchen, das ihn wieder einmal nicht beachtet hat. Langsam schlurft der Junge weiter. Das gemächliche Tempo bietet Gott Gelegenheit, sich genauer umzusehen. Statt Geschäften herrschen in dieser Gegend Wohnhäuser vor, nur wenige Menschen sind auf der Straße unterwegs. Der Junge biegt in einen kleinen Park ein. Seine Schritte verursachen ein schm atzendes Geräusch auf dem matschigen Weg. Gott begleitet ihn, ohne sich bemerkbar zu machen. Schließlich erreichen sie einen Spielplatz. Klettergerüste, von denen die Farbschichten der vergangenen Jahre abblättern. Die Rutschbahn ist regennass, der ganze Platz liegt verlassen da. Nur der überquellende Mülleimer zeugt davon, dass sich hier gelegentlich Menschen aufhalten. Der Junge klettert die glitschige Leiter zu einem Holzhäuschen hoch. Er muss den Kopf einziehen, um sich unter das Dach zu quetschen, und Gott füllt die verbleibenden Lücken aus. So sitzen sie zusammengekauert und blicken in den grauen Himmel hinauf. Plötzlich zieht der Junge ein Feuerzeug aus der Hosentasche. Er reibt energisch über das Zündrad, lässt das Feuerzeug aufflammen und erlöschen, aufflammen und erlöschen, wieder und wieder. Die Innenseite des Hüttendaches ist mit Inschriften übersät. Der Junge hält die Flamme daran und beobachtet, wie das Holz sich an der Stelle schwarz verfärbt. Bevor noch Schlimmeres geschehen kann, schickt Gott einen Windhauch, der die Flamme löscht. Er beobachtet, wie das Kind vergeblich versucht, sie wieder zu entzünden, und das nutzlos gewordene Feuerzeug schließlich auf den Boden schleudert. In diesem Moment trifft ein kleiner Stein den Jungen am Rücken. Gott gewahrt zwei andere Jungs, älter als der, den er sich ausgesucht hat. Die beiden stehen unten beim Sandkasten und starren zu ihnen hinauf.
    Â»He, du Flasche!«, ruft der größere der beiden, und der andere startet einen Singsang: »Ol-li, Lol-li, Ol-li, Lol-li!!«
    Ein weiteres Steinchen trifft den Jungen am Arm, die Großen lachen, dann schwingen sie sich auf ihre Fahrräder und sausen weg.
    Das Kind, das, wie Gott schlussfolgert, wohl Olli-Lolli heißen muss, bleibt noch eine Weile sitzen. Als es dunkel wird, setzt es seinen einsamen Streifzug fort, bis es vor einem kleinen Geschäft stehen bleibt. Kiosk steht über der Tür. Der Junge tritt durch die Glastür ein und lässt sich von dem Mann hinter dem Verkaufstresen ein Tütchen mit buntem Krimskrams füllen, das er mit Geld aus seiner Hosentasche bezahlt. Kaum wieder auf der Straße, steckt sich der Junge ein Ding nach dem anderen in den Mund. Kaut kaum, schlingt alles hinunter. Schließlich kommt er mit Gott im Schlepptau wieder in Ritas und Erwins Straße an. Der Junge klingelt an der Tür, aus der er Stunden zuvor getreten war. Gott folgt ihm durch das dunkle Treppenhaus.
    Im dritten Stockwerk lehnt ein pickliger Teenager im Türrahmen. »Na, du Affe!«, begrüßt er den Jungen, der sich an ihm vorbei in den Flur quetscht. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher, davor lungert ein weiteres Kind im Sessel. Gott stellt mit Erstaunen fest, dass es sich dabei um einen der Rüpel vom Spielplatz handelt.
    Â»Olli, bist du das?«, ertönt eine weibliche Stimme. Die Mutter, eine hagere Frau mit müden Augen, lehnt am geöffneten Küchenfenster und raucht. Sie trägt ­einen blauweißen Kittel mit dem Emblem eines Krankenhauses darauf. »Kommst spät heute!«, sagt sie, wobei sie die Zigarette im Aschenbecher ausdrückt. Dann schließt sie das Fenster und greift nach dem Schlüsselbund, der auf dem Tisch liegt. »Ich muss los«, sagt sie. »Dein Essen steht in der Mikro.« Sie küsst ihn flüchtig auf die Wange, bevor sie die Küche verlässt.
    Kurz darauf hört Gott, wie die Wohnungstür ins Schloss fällt. Der Junge
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