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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Autoren: Edmund de Waal
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Diaspora.
    Nach der Bestattung bittet mich Jiro, ihm beim Aussortieren von Iggies Kleidung zu helfen. Ich öffne die Schränke in seinem Ankleidezimmer und sehe die nach Farben sortierten Hemden. Während ich die Krawatten einpacke, fällt mir auf, dass sie eine Art Karte seiner Urlaube mit Jiro nachzeichnen: London und Paris, Honolulu und New York.
    Als das erledigt ist und wir ein Glas Wein trinken, nimmt Jiro Pinsel und Tusche, schreibt ein Dokument und versiegelt es. Darauf steht, so sagt er mir, dass ich mich nach seinem Tod der Netsuke annehmen soll.
    Also bin ich der Nächste.
     
    264 Netsuke befinden sich in dieser Sammlung. Es ist eine sehr große Sammlung sehr kleiner Dinge.
    Ich nehme eines und wende es in meinen Fingern, wiege es auf meiner Handfläche. Wenn es aus Holz ist, Kastanie oder Ulme, ist es sogar noch leichter als Elfenbein. Auf den hölzernen Netsuke ist die Patina deutlicher zu erkennen: Das Rückgrat des gefleckten Wolfs zeigt einen leichten Schimmer, so wie die in ihre Umklammerung verstrickten stürzenden Akrobaten. Die elfenbeinernen gibt es in Abstufungen von Cremefarben, eigentlich von allen Farben außer Weiß. Einige haben eingelegte Augen aus Bernstein oder Horn. Manche der älteren Stücke sind ein wenig abgegriffen: Die Flanken des auf Blättern hingelagerten Fauns haben ihre Zeichnung verloren. Auf der Zikade ist ein leichter Riss, eine beinahe unmerkliche Bruchlinie. Wer hat sie fallen gelassen? Wo und wann?
    Die meisten tragen eine Signatur - dieser Augenblick des Besitzens, wenn man etwas vollendet hat und loslässt. Es gibt ein hölzernes Netsuke eines sitzenden Mannes mit einem Flaschenkürbis zwischen den Beinen. Er beugt sich darüber, beide Hände an einem Messer, das halb im Kürbis steckt. Es ist Schwerarbeit, seine Arme, seine Schulter, sein Nacken zeigen die Anstrengung: Jeder Muskel ist auf die Klinge konzentriert. Es gibt ein weiteres von einem Küfer, der mit einer Dechsel an einem halbfertigen Fass arbeitet. Er lehnt sich daran, die Brauen vor Konzentration gerunzelt. Eine Elfenbeinschnitzerei darüber, wie es sich anfühlt, in Holz zu schneiden. Beide schaffen etwas Vollendetes zum Thema Halbfertiges. Schau, sagen sie, ich bin schon dort, und er hat noch kaum angefangen.
    Beim Befingern ist es reizvoll, die Stelle aufzuspüren, wo die Signatur angebracht ist - auf der Sohle einer Sandale, am Ende eines Zweigs, auf dem Oberleib einer Hornisse -, die Beziehung zwischen den Pinselstrichen zu entdecken. Ich denke an die Gesten, mit denen man in Japan seinen Namen tuscht, die schwingende Bewegung des Pinsels in die Tusche, der erste plosive Moment des Kontakts, dann zurück zum Tintenstein, und staune, wie man mit den feinen Metallwerkzeugen eines Netsuke-Künstlers eine solch ausgeprägte Signatur entwickeln konnte.
    Einige der Netsuke tragen keinen Namen. Auf einigen kleben Papierstückchen, darauf stehen winzige Nummern in roter Tinte.
    Viele Ratten sind darunter. Vielleicht deswegen, weil sie dem Künstler die Möglichkeit geben, ihre geschmeidigen Schwänze umeinanderzuwinden, um Wassereimer, tote Fische, Bettlergewänder, und dann die Pfoten an der Unterseite der Schnitzerei zu falten. Es gibt auch viele Rattenfänger, fällt mir auf.
    Einige Netsuke sind Studien in fließender Bewegung, die Finger gleiten über eine Oberfläche aus sich entrollenden Seilen oder verschüttetem Wasser. Andere zeigen kleine, gepresste Gesten, die sich knotig anfühlen: ein Mädchen in einem hölzernen Zuber, ein Strudel aus Muschelschalen. Manche haben beides, auf überraschende Weise: Ein komplex gezackter Drache lehnt an einem glatten Felsen. Man lässt die Finger über die Glätte und Härte des Elfenbeins gleiten und trifft auf die unvermittelte Kompaktheit des Drachen.
    Sie sind immer asymmetrisch, denke ich voll Freude. Wie meine liebsten japanischen Teeschalen; man kann das Ganze nicht aus einem Teil begreifen.
    Zurück in London, stecke ich eines dieser Netsuke in die Tasche und trage es einen Tag lang mit mir herum. Tragen ist nicht das richtige Wort, wenn man ein Netsuke in der Tasche hat. Es klingt zu zielgerichtet. Ein Netsuke ist so leicht und klein, dass es wegschlüpft, zwischen Schlüsseln und Wechselgeld beinahe verschwindet. Man vergisst einfach, dass es da ist. Es ist das Netsuke einer überreifen Mispelfrucht, im späten 18. Jahrhundert in Edo, dem alten Tokio, aus Kastanienholz geschnitzt. Im Herbst sieht man in Japan manchmal Mispeln; ein Zweig, der über
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