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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Autoren: Edmund de Waal
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eine Tempelmauer hängt oder von einem Privatgarten in eine Straße voller Münzautomaten, wirkt überaus beglückend. Meine Mispel ist gerade am Übergang von der Reife zum Weichwerden. Die drei Blätter an der Spitze fühlen sich an, als würden sie abfallen, wenn man sie zwischen den Fingern reibt. Die Frucht ist nicht ganz gleichmäßig; auf einer Seite ist sie reifer als auf der anderen. Unten kann man die zwei Löcher fühlen, eines etwas größer, wo die Seidenschnur durchlief, so dass das Netsuke als Knebelknopf an einem kleinen Beutel dienen konnte. Ich versuche mir vorzustellen, wem die Mispel gehört hat. Sie wurde in den 1850er Jahren gefertigt, lange vor der Öffnung Japans für den Außenhandel und deshalb für den japanischen Geschmack: Sie könnte für einen Kaufmann oder Gelehrten geschnitzt worden sein. Sie ist still, unaufdringlich, aber sie bringt mich zum Lächeln. Etwas Greifbares aus einem sehr harten Material zu machen, das sich so weich anfühlt, ist ein bedächtiger und ziemlich guter taktiler Scherz.
    Ich behalte die Mispel in meiner Jackentasche und gehe zu einer Besprechung in ein Museum, es geht um eine Recherche, die ich erledigen soll, dann in mein Atelier und in die London Library. Hin und wieder lasse ich das Ding durch die Finger gleiten.
    Es wird mir klar, dass ich unbedingt wissen möchte, wie dieses hartweiche, leicht zu verlierende Objekt überlebt hat. Ich muss einen Weg finden, seine Geschichte zu enträtseln. Dass ich dieses Netsuke besitze, dass ich sie alle geerbt habe, bedeutet, man hat mir eine Verantwortung für sie und für die Menschen, die sie besaßen, übertragen. Ich fühle mich unsicher und verwirrt, wie die Bedingungen dieser Verantwortung aussehen mögen.
    Das Wesentliche ihrer Reise kenne ich von Iggie. Ich weiß, dass ein Cousin meines Urgroßvaters namens Charles Ephrussi diese Netsuke in den 1870er Jahren in Paris gekauft hat. Ich weiß, dass mein Urgroßvater Viktor von Ephrussi sie in Wien um die Jahrhundertwende von ihm zur Hochzeit geschenkt bekam. Ich kenne die Geschichte von Anna, der Zofe meiner Urgroßmutter, sehr gut. Und ich weiß, dass sie mit Iggie nach Tokio kamen und zu seinem Leben mit Jiro gehörten.
    Paris, Wien, Tokio, London.
    Die Geschichte der Mispel beginnt dort, wo sie geschaffen wurde. In Edo, dem alten Tokio, bevor die »Schwarzen Schiffe« des amerikanischen Commodore Perry 1859 Japan für den Handel mit dem Rest der Welt öffneten. Doch ihre erste Bleibe war in Charles’ Arbeitszimmer in Paris. Es war in einem Zimmer im Hotel Ephrussi, das auf die Rue de Monceau blickte.
    Es fängt gut an. Ich bin erfreut, weil ich eine direkte Verbindung zu Charles habe, eine Verbindung durch das Wort. Als fünfjähriges Kind traf meine Großmutter Elisabeth Charles im Chalet Ephrussi in Meggen am Vierwaldstättersee. Das Chalet, das waren sechs Stockwerke aus grob behauenen Steinquadern, überragt von gedrungenen Türmchen, ein Haus von überwältigender Hässlichkeit. Charles’ ältester Bruder Jules und dessen Frau Fanny hatten es Anfang der 1880er Jahre erbauen lassen; dort wollten sie dem »fürchterlichen Druck in Paris« entfliehen. Das Haus war riesig, groß genug, um den gesamten Ephrussi-Clan aus Paris und Wien, dazu diverse Cousins und Cousinen aus Berlin zu beherbergen.
    Um das Chalet verliefen endlose schmale, knirschende Wege mit säuberlichen Buchsbaumeinfassungen nach englischer Manier, es gab kleine Beete mit einjährigen Blumen und einen grimmigen Gärtner, der die Kinder zusammenstauchte, wenn sie spielten; in diesem strengen Schweizer Garten hatte kein Kiessteinchen etwas verloren. Der Garten fiel zum See hinunter ab, dort waren ein kleiner Landesteg und ein Bootshaus und noch mehr Gelegenheiten, ausgeschimpft zu werden. Jules, Charles und der mittlere Bruder Ignaz waren russische Staatsbürger, auf dem Dach des Bootshauses flatterte die kaiserliche russische Flagge. Die Sommer im Chalet waren endlos und gemächlich. Meine Großmutter sollte die märchenhaft reichen und kinderlosen Jules und Fanny beerben. Sie erinnerte sich an ein großes Gemälde im Speisezimmer, Weiden an einem Fluss. Und sie erinnerte sich auch, dass es nur männliche Bedienstete im Haus gab, sogar der Koch war ein Mann, das war tausendmal aufregender als der Haushalt in Wien, wo es neben all den Hausmädchen und Köchinnen nur den alten Butler Josef gab, den Portier, der ihr zuzwinkerte, wenn er das Tor zur Ringstraße öffnete, und die Stallburschen.
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