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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Autoren: Edmund de Waal
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berührt, ein eigenartiger Moment. Wenn ich dieses weiße Schälchen mit der kleinen Kerbe beim Henkel aufnehmen möchte, wird es dann in meinem Leben eine Rolle spielen? Ein einfaches Ding, dieses Schälchen, eher elfenbeinfarben als weiß, zu klein für den Morgenkaffee, nicht ganz ausgewogen, es könnte sich den Dingen in meinem Leben zugesellen, mit denen ich umgehe. Es könnte in die Region der privaten Geschichten absinken: das sinnliche, geschmeidige Verflechten von Gegenständen mit Erinnerungen. Ein bevorzugter, ein Lieblingsgegenstand. Oder ich könnte es beiseitestellen. Oder verschenken.
    Wie Objekte weitergegeben werden, hat mit Geschichtenerzählen zu tun. Ich gebe dir das, weil ich dich liebe. Oder weil man es mir gegeben hat. Weil ich es an einem besonderen Ort gekauft habe. Weil du darauf achtgeben wirst. Weil es dein Leben komplizieren wird. Weil es jemand anderen neidisch machen wird. Vermächtnisse erzählen keine einfachen Geschichten. Woran erinnert man sich, was wird vergessen? Ebenso wie die stetige Anlagerung von Geschichten kann es auch eine Kette des Vergessens geben, ein Abscheuern des einstigen Eigentumsrechts. Was wird mir mit all diesen kleinen japanischen Objekten weitergegeben?
    Ich merke, ich habe schon zu lange mit dieser Netsuke-Sache gelebt. Ich kann sie entweder für den Rest meines Lebens anekdotisch ausschlachten - die kuriose Erbschaft eines geliebten alten Verwandten - oder herausfinden, was sie bedeutet. Eines Abends ertappe ich mich dabei, wie ich ein paar Wissenschaftlern beim Dinner erzähle, was ich von der Geschichte weiß, und mir wird ein wenig übel dabei, wie souverän das alles klingt. Ich höre mich sie unterhalten, und die Geschichte spiegelt sich in ihren Reaktionen. Sie wird nicht nur glatter, sie wird auch dünner. Ich muss das jetzt in Ordnung bringen, oder sie wird sich verflüchtigen.
    Dass ich viel zu tun habe, ist keine Entschuldigung. Eben erst hatte ich eine Ausstellung meines Porzellans in einem Museum, den Auftrag für einen Sammler kann ich verschieben, wenn ich es geschickt anfange. Ich habe mit meiner Frau verhandelt und meinen Terminkalender abgehakt. Drei, vier Monate sollten genügen. In dieser Zeit könnte ich noch einmal nach Tokio, um Jiro zu treffen, dann nach Paris und Wien.
    Da meine Großmutter und Großonkel Iggie tot sind, muss ich meinen Vater um Hilfe bitten, damit ich anfangen kann. Er ist achtzig und die Güte in Person; für Hintergrundinformationen wird er gerne die Familiensachen durchforsten. Er scheint entzückt, dass einer seiner vier Söhne Interesse zeigt. Es sei nicht viel, warnt er mich. Er kommt mit einem kleinen Packen Fotos in mein Atelier, ungefähr vierzig sind es, dazu zwei dünne blaue Ordner mit Briefen, auf die er gelbe Post-its geklebt hat, die meisten Briefe kann ich entziffern; ein Stammbaum mit Anmerkungen meiner Großmutter aus den 197oern, das Mitgliedsbuch für den Wiener Club aus dem Jahr 1935 und, in einem Supermarktbeutel, ein Stoß Romane von Thomas Mann mit Widmung. Wir breiten alles auf dem langen Tisch in meinem Büro im ersten Stock aus, über dem Raum mit den Brennöfen für meine Töpfereien. Du bist jetzt der Hüter des Familienarchivs, sagt er, und ich sehe die Stapel an und bin mir nicht sicher, wie komisch ich das finden soll.
    Ein wenig verzagt frage ich, ob es noch mehr Material gibt. Am Abend schaut er in seinem kleinen Apartment in der Wohnanlage für pensionierte Geistliche, wo er lebt, noch einmal nach und ruft mich dann an: Er hat noch einen Band Thomas Mann gefunden. Diese Reise wird komplizierter werden, als ich dachte.
    Trotzdem, ich kann nicht gleich mit Jammern anfangen. Ich weiß wenig Substanzielles über Charles, den ersten Sammler der Netsuke, aber ich habe herausgefunden, wo in Paris er gelebt hat. Ich stecke ein Netsuke in die Tasche und mache mich auf den Weg.

TEIL EINS
     
    Paris 1871-18
     
    Le West End
     
    An einem sonnigen Apriltag ziehe ich los, um Charles zu finden. Die Rue de Monceau ist eine lange Pariser Straße, auf halber Höhe schneidet sie der prachtvolle Boulevard Malesherbes, der dann in Richtung Boulevard Pereire weiterführt. Auf der ansteigenden Straße reihen sich Häuser aus Golden Stone aneinander, eine Reihe Hotels mit sachte klassizistischen Anklängen, jedes ein kleiner florentinischer Palazzo mit wuchtigen Rustika-Erdgeschossen und einem Großaufgebot von Büsten, Karyatiden und Kartuschen. Nummer 81 Rue de Monceau, das Hotel Ephrussi, wo meine
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