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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Autoren: Edmund de Waal
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Belagerung durch die preußische Armee hatte erst einige Monate zuvor mit der Niederlage Frankreichs und der Ausrufung des Deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles ihr Ende gefunden. Die neue Dritte Republik stand auf wackeligen Beinen, sie war gefährdet durch die Kommunarden auf der Straße und durch Fraktionskämpfe in der Regierung.
    Das Haus der Ephrussi war zwar fertig, doch die Nachbarhäuser waren alle noch im Bau. Die Stuckateure waren eben erst gegangen, die Vergolder lagen in unbequemen Verrenkungen auf den flachen Treppen und polierten die Knäufe am Handlauf. Möbel, Bilder, Kisten mit Geschirr werden langsam in die Wohnungen hinaufgeschleppt. Lärm innen, Lärm außen, alle Fenster zur Straße stehen offen. Leon geht es nicht gut, er ist herzkrank. Und das Leben der Familie in dieser schönen Straße beginnt mit einem schrecklichen Schlag. Betty, das jüngste der vier Kinder von Leon und Mina, verheiratet mit einem jungen jüdischen Bankier von tadelloser Reputation, stirbt einige Wochen nach der Geburt ihrer Tochter Fanny. Sie müssen in der jüdischen Abteilung des Friedhofs am Montmartre, in ihrer neuen Heimatstadt, ein Familienmausoleum errichten. Es ist gotisch, groß genug für die ganze Sippe; auch das macht deutlich, dass sie hierbleiben werden, komme, was da wolle. Schließlich mache ich es ausfindig. Die Türflügel sind verschwunden, der Herbstwind hat Kastanienblätter darinnen zusammengeweht.
    Diese Anhöhe war das perfekte Umfeld für die Familie Ephrussi. So wie die Wiener Ringstraße, wo der andere Teil der Sippe lebte, spöttisch Zionstraße genannt wurde, war jüdisches Geld auch hier in der Rue de Monceau der gemeinsame Nenner. Die Gegend war in den 186oern von Isaac und Emile Pereire entwickelt worden, zwei sephardischen Brüdern, die als Financiers, Eisenbahnbauer und Immobilienmagnaten zu Geld gekommen waren und kolossale Hotel- und Kaufhausprojekte finanziert hatten. Sie erwarben die Plaine de Monceau, ein weites, ödes Gelände, ursprünglich außerhalb der Stadtgrenzen gelegen, und gingen daran, Häuser für die aufstrebende Finanz- und Handelselite zu errichten, eine angemessene Umgebung für die eben erst ansässig werdenden jüdischen Familien aus Russland und der Levante. In diesen Straßen entstand eine regelrechte Kolonie, ein Komplex aus Einheiraten, gegenseitigen Verpflichtungen und religiöser Gleichgestimmtheit.
    Die Pereires gestalteten den bereits bestehenden Park aus dem 18. Jahrhundert um, um den Häusern ringsum eine schönere Aussicht zu bieten. Neue schmiedeeiserne Gittertore mit vergoldeten Emblemen, die auf die Tätigkeit der Pereires Bezug nahmen, führten nun hinein. Manche nannten die Gegend rings um den Pare Monceau le West End. Wenn man Sie fragt, wo der Boulevard Malesherbes hinführt, schrieb ein zeitgenössischer Journalist, »dann sagen Sie einfach ganz keck: ins West End … Eine englische Bezeichnung ist viel vornehmer als eine französische.« Das war der Park, wo man, wie ein anderer gallig schrieb, »die großen Damen aus den noblen Faubourgs promenieren sehen kann … die weiblichen Pendants der >Haute Finance< und der >Haute Colonie Israeliter<.
     
    Während ich in einem Tempo, das mir einem Flaneur angemessen scheint, etwas langsamer als üblich, vom Hotel Ephrussi abwärts schlendere und hin und wieder die Straßenseite wechsle, um mir die Details der Stuckatur um die Fenster näher anzusehen, wird mir bewusst, dass viele der Häuser, an denen ich vorübergehe, diese Geschichten von Neuerfindung in sich tragen. Fast alle, die sie erbauten, hatten anderswo begonnen.
    Zehn Häuser abwärts vom Heim der Ephrussi, auf Nummer 61, steht das Haus von Abraham Camondo, sein Bruder Nissim wohnte auf Nummer 63, seine Schwester Rebecca gegenüber auf Nummer 60. Die Camondos, jüdische Finanzmagnaten wie die Ephrussi, waren aus Konstantinopel via Venedig nach Paris gekommen. Der Bankier Henri Cernuschi, ein plutokratischer Anhänger der Kommune, stammte aus Italien und lebte mit seinen japanischen Kostbarkeiten in kühler Pracht am Rand des Parks. Auf Nummer 55 befindet sich das Hotel Cattaui, das einer Familie jüdischer Bankiers aus Ägypten gehörte. Auf Nummer 43 steht das Palais von Adolphe de Rothschild; er hatte es von Eugene Pereire erworben und umgebaut, samt einem glasüberdachten Ausstellungsraum für seine Renaissance-Kunstsammlung.
    Nichts aber kann sich mit dem vom Schokolademagnaten Emile-Justin Menier erbauten Herrenhaus
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