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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Autoren: Edmund de Waal
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sozialen Lage in eine andere überwechseln. Mit Sprachen ist man überall zuhause.
    Sie besuchen Breughels »Jäger im Schnee« mit dem Gewusel von Hunden auf dem Hügelkamm. In der Albertina öffnen sie die Schränke mit Graphiken, sehen die Dürer-Aquarelle, den zitternden Feldhasen, den Flügel einer Blauracke. Im Prater lernen sie reiten. Die Buben lernen fechten, alle Cousins und Cousinen erhalten Tanzstunden. Sie können alle gut tanzen. Der achtzehnjährige Charles hat einen Familien-Spitznamen, Le Polonais, der Polonaisentänzer.
    In Wien kommen die ältesten Buben, Jules, Ignaz und Stefan, ins Büro an der Schottenbastei mit, etwas abseits der Ringstraße. Ein abweisendes Gebäude. Hier erledigen die Ephrussi ihre Geschäfte. Die Buben sollen stillsitzen, während man über Getreidelieferungen spricht und Aktienprozentsätze abfragt. Es gibt neue Gelegenheiten, Öl in Baku, Gold um den Baikalsee. Büroangestellte huschen herum. Hier werden die Knaben auf die schiere Größe dessen eingeschworen, was einmal ihnen gehören wird, hier lernen sie aus den endlosen Zahlenkolonnen in den Kontobüchern den Katechismus des Profits.
    Da sitzt Charles nun mit seinem jüngsten Cousin Viktor und zeichnet Laokoon und die Schlangen, die Skulptur, die ihm in Odessa so gefallen hat, er macht die Schlingen um die muskelbewehrten Schultern besonders straff, um den Jungen zu beeindrucken. Es dauert lange, jede Schlange ordentlich wiederzugeben. Er zeichnet, was er in der Albertina gesehen hat. Er zeichnet die Dienstboten. Und er redet mit den Freunden seiner Eltern über ihre Bilder. Es ist immer angenehm, sich mit einem so beschlagenen jungen Mann über die eigenen Bilder zu unterhalten.
    Und dann, endlich, die lange geplante Übersiedlung nach Paris. Charles sieht gut aus, schlank, mit einem adrett gestutzten dunklen Bart, der in einem bestimmten Licht rötlich schimmert. Er hat die Ephrussi-Nase, eine lange Hakennase, und die hohe Stirn aller Verwandten. Seine Augen sind dunkelgrau und lebhaft, er ist charmant. Man sieht, wie gut er sich anzieht, seine Krawatte ist wunderschön gefältelt, und dann hört man ihn reden: Er redet ebenso gut, wie er tanzt.
    Charles kann tun und lassen, was er möchte.
    Ich hätte gerne, dass das so ist, weil er der jüngste Sohn war, der dritte Sohn, und weil in allen guten Märchen immer der dritte Sohn das Heim verlässt und auf Abenteuer auszieht - reine Projektion, ich bin ein dritter Sohn. Doch ich vermute, die Familie weiß, dass dieser Knabe nicht für die Börse geschaffen ist. Seine Onkel Michel und Maurice sind nach Paris gezogen: Vielleicht gab es genügend Söhne für die Büros von Ephrussi et Cie in der Rue de l’Arcade 45, damit keinem dieser liebenswürdige Bücherwurm abging, der sich gerne zurückzog, wenn das Thema Geld aufs Tapet kam, und ein Talent dafür hatte, sich im Gespräch zu verlieren.
    Charles’ Wohnung ist im Haus der Familie - goldstrotzend, sauber, leer. Er hat etwas, wohin er zurückkehren kann, ein neues Haus auf einer frisch gepflasterten Pariser Anhöhe. Er beherrscht Sprachen, er hat Geld, und er hat Zeit. Also geht er auf Reisen. Wie ein gebildeter junger Mann fährt er nach Süden, nach Italien.
     
    Ein Paradebett
     
    In der Vorgeschichte meiner Netsuke-Sammlung ist dies das erste Stadium von Charles’ Sammlungen. Vielleicht hatte er als Junge in den Promenaden von Odessa Rosskastanien aufgelesen oder in Wien Münzen gesammelt; jedenfalls weiß ich, dass es hier angefangen hat. Womit er beginnt und was er in seine Wohnung in der Rue de Monceau bringt, bezeugt Begierde. Begierde oder Gier oder freigesetzte Erregung: Jedenfalls kauft er sehr viel.
    Er setzt ein Jahr aus, fern von seiner Familie, ein herkömmliches Wanderjahr, eine Grand Tour durch den Kanon der Renaissancekunst. Diese Reise macht aus Charles einen Sammler. Oder, denke ich, vielleicht ermöglicht sie es ihm, zu sammeln, aus Betrachten Besitz und aus Besitz Wissen zu machen.
    Charles kauft Zeichnungen und Medaillons, Renaissance-Emailarbeiten und Gobelins aus dem 16. Jahrhundert nach Vorzeichnungen von Raffael. Er kauft einen Marmorputto á la Donatello. Er kauft die schöne Fayenceskulptur eines jungen Fauns von Luca della Robbia, ein hintergründiges, verletzliches Wesen, das den Betrachter über die Schulter hinweg anblickt, glasiert in dunklem Madonnenblau und Dottergelb. In seiner Wohnung in der zweiten Etage stellt Charles sie später in eine Nische in seinem Schlafzimmer, umrahmt
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