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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Autoren: Edmund de Waal
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Vorwort
     
    1991 wurde mir von einer japanischen Stiftung ein Zwei-Jahres-Stipendium zugesprochen. Die Idee dahinter war, sieben jungen Engländerinnen und Engländern mit unterschiedlichen beruflichen Interessen - Technik, Journalismus, Industrie, Keramik - zunächst an einer englischen Universität die Grundbegriffe der japanischen Sprache zu vermitteln; darauf sollte ein Jahr in Tokio folgen. Unsere Beherrschung der Sprache sollte dazu beitragen, eine neue Ära der Beziehungen mit Japan zu eröffnen. Wir waren die Ersten, die ins Programm aufgenommen wurden, und die Erwartungen waren hoch.
    In unserem zweiten Jahr verbrachten wir die Vormittage in einer Sprachenschule in Shibuya, oberhalb eines Gewirrs aus Fast-Food-Märkten und Elektronik-Diskontern gelegen. Tokio erlebte damals den größten Boom seit dem Krieg. Berufspendler blieben an den Zebrastreifen stehen, wo ein Gedränge herrschte wie nirgendwo auf der Welt, um einen Blick auf die Videoanzeigen zu werfen, auf denen die Aktienkurse des Nikkei-Index immer höher kletterten. Um den Stoßzeiten in der U-Bahn auszuweichen, ging ich eine Stunde früher und traf mich vor dem Unterricht mit einem anderen Studenten, einem Archäologen, auf Zimtbrötchen und Kaffee. Seit meiner Schulzeit hatte ich nun zum ersten Mal wieder Hausaufgaben zu erledigen: Ich musste jede Woche 150 kanji lernen, japanische Schriftzeichen, musste den Text einer Spalte aus einer Boulevardzeitung grammatikalisch bestimmen und jeden Tag Dutzende Redewendungen wiederholen. Noch nie hatte ich mich vor etwas so gefürchtet. Die jüngeren Studenten scherzten mit den Lehrkräften auf Japanisch über Fernsehsendungen oder politische Skandale. Die Schule lag hinter einem grünen Metalltor; ich erinnere mich, eines Morgens dagegen getreten und gedacht zu haben, was das bedeutete: achtundzwanzig und gegen ein Schultor treten.
     
    Die Nachmittage gehörten mir. Zwei pro Woche verbrachte ich in einem Keramikatelier, wo man die verschiedensten Leute antraf, von pensionierten Geschäftsleuten, die Teeschalen anfertigten, bis zu Studenten, die in grobem rotem Ton und Maschendraht ihr Avantgarde-Statement abgaben. Man zahlte seinen Beitrag, schnappte sich eine Werkbank oder Töpferscheibe und konnte loslegen. Es war nicht laut dort, aber es herrschte ein fröhliches Plaudergesumme. Ich arbeitete zum ersten Mal mit Porzellan und drückte behutsam die Wände meiner Krüge und Teekannen nach innen, nachdem ich sie von der Scheibe genommen hatte.
    Ich hatte getöpfert, seit ich ein Kind war, und meinen Vater bestürmt, mich in einen Abendkurs mitzunehmen. Als Erstes hatte ich auf der Töpferscheibe eine Schale gefertigt, die ich in opalisierendem Weiß mit einem Schuss Kobaltblau glasierte. Die meisten Nachmittage meiner Schulzeit verbrachte ich in einer Töpferwerkstatt, und mit siebzehn ging ich vorzeitig von der Schule ab, um bei einem strengen Mann in die Lehre zu gehen, einem Jünger des englischen Töpfers Bernard Leach. Er lehrte mich Respekt vor dem Material und Zweckmäßigkeit: Ich drehte Hunderte Suppenschüsseln und Honigtöpfe aus grauem Steinzeugton und fegte den Boden. Ich half beim Herstellen der Glasuren, genau ausgewogenen Neujustierungen östlicher Farben. Er war nie in Japan gewesen, doch er hatte Regale voller Bücher über japanische Töpferwaren: Wenn wir vormittags aus Bechern unseren Milchkaffee tranken, diskutierten wir über die Vorzüge bestimmter Teeschalen. Hüte dich, pflegte er zu sagen, vor ungerechtfertigter Gestik: Weniger ist mehr. Wir arbeiteten schweigend oder hörten klassische Musik.
    Während dieser Lehrzeit verbrachte ich einen langen Sommer in Japan und besuchte ähnlich strenge Meister in Töpferdörfern im ganzen Land: Mashiko, Bizen, Tamba. Jedes Wispern beim Zusammenfalten eines Papier-Wandschirms, jedes Geplätscher, wenn das Wasser im Garten eines Teehauses über Steine floss, war eine Epiphanie, so wie jede Neonreklame für Dunkin’ Donuts mich vor Unbehagen den Mund verziehen ließ. Es existiert ein schriftlicher Beleg für die Intensität meiner Hingabe, ein Artikel, den ich nach meiner Rückkehr für eine Zeitschrift verfasste: »Japan und die Ethik des Töpfers. Ehrfurcht vor dem Material und den Zeichen des Alters«.
    Nachdem ich meine Lehrzeit beendet und anschließend an der Universität englische Literatur studiert hatte, arbeitete ich sieben Jahre allein in stillen, ordentlichen Ateliers an der walisischen Grenze und dann in einer trostlosen
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