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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Autoren: Edmund de Waal
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Netsuke ihre Reise antraten, steht am höchsten Punkt der Straße. Ich passiere einen Showroom von Christian Lacroix; das Haus daneben ist es. Jetzt befindet sich dort, wie deprimierend, eine Krankenversicherung.
    Es ist wunderschön. Als Junge pflegte ich Gebäude wie dieses hier zu zeichnen, Nachmittage verbrachte ich damit, sorgfältig Schatten zu tuschen, so dass man die Plastizität der Fenster und Säulen nachspüren konnte. Es ist etwas Musikalisches an solchen Aufrissen. Man nimmt klassische Elemente und versucht ihnen rhythmisches Leben zu verleihen: vier emporstrebende korinthische Pilaster gliedern die Fassade, vier massive steinerne Urnen auf der Brüstung, fünf Stockwerke hoch, acht Fenster breit. Das Erdgeschoss ist aus großen Steinblöcken gemauert, so bearbeitet, dass sie verwittert wirken. Ich gehe zweimal daran vorbei, beim dritten Mal fällt mir auf, dass in die Gitter an den straßenseitigen Fenstern das doppelte E der Familie Ephrussi eingearbeitet ist, die Schnörkel der Buchstaben winden sich um das Oval. Die E sind kaum erkennbar. Ich versuche mir diese Zurückhaltung zu erklären und was sie über das Selbstgefühl der Familie aussagt. Ich schlüpfe durch den Durchgang in einen Hof, dann durch einen weiteren Torbogen zu Stallgebäuden aus rotem Backstein mit Dienstbotenwohnungen darüber; ein ansprechendes Diminuendo von Materialien und Texturen.
    Ein Bote bringt Schachteln mit Speedy-Go-Pizza in die Büros der Krankenversicherung. Die Tür zum Entree steht offen. Ich gehe hinein, die Treppe windet sich wie eine Rauchfahne durch das Haus hinauf, schwarzes Schmiedeeisen und Goldfiligran bis zur Laterne ganz oben. In einer tiefen Nische eine Marmorurne, Marmorfliesen im Schachbrettmuster. Angestellte kommen die Treppe herunter, die Absätze knattern auf dem Marmor, ich ziehe mich verlegen zurück. Wie soll ich bloß diese idiotische Suche erklären? Ich stehe auf der Straße, betrachte das Haus und mache ein paar Fotos, Entschuldigungen murmelnd drücken sich Pariser an mir vorbei. Häuser zu betrachten ist eine Kunst. Man muss sehen lernen, wie ein Gebäude in der Landschaft oder einer Straßenlandschaft situiert ist. Man muss entdecken, wie viel Raum es in der Welt einnimmt, wie viel davon es verdrängt. Nummer 81 zum Beispiel ist ein Haus, das auf gewitzte Weise in seine Nachbarn hineinkriecht: Es gibt Häuser, die grandioser sind, manche sind weniger ansehnlich, wenige aber diskreter.
    Ich blicke hinauf zu den Fenstern im zweiten Stock, wo Charles seine Zimmerflucht hatte; von einigen Räumen sah man über die Straße zu dem robusteren klassizistischen Bau gegenüber, von anderen über den Hof in eine abwechslungsreiche Dachlandschaft aus Urnen, Giebeln und Schornsteinaufsätzen. Er hatte ein Vorzimmer, zwei Salons - einen nutzte er als Arbeitszimmer -, ein Speisezimmer, zwei Schlafzimmer und ein »vetite«. Ich versuche es mir zurechtzulegen; er und sein älterer Bruder Ignaz müssen angrenzende Wohnungen auf diesem Stockwerk gehabt haben, der ältere Bruder Jules und die verwitwete Mutter Mina lebten unterhalb, in den Räumen mit den höheren Decken und prächtigeren Fenstern und den Balkonen, auf denen an diesem Aprilmorgen ein paar staksige rote Geranien in Plastiktöpfen blühen. Laut den städtischen Messdaten war der Innenhof mit einem Glasdach versehen, aber dieses Glas ist seit langem verschwunden. Und es gab fünf Pferde und drei Kutschen in den Stallungen, die jetzt ein elegantes kleines Häuschen sind. War das die richtige Anzahl an Pferden für eine große Familie mit einem regen gesellschaftlichen Umgang, die den richtigen Eindruck hinterlassen wollte?
    Es ist ein riesiges Haus, aber die drei Brüder müssen einander jeden Tag auf dieser schwarz-goldenen gewundenen Treppe begegnet sein oder einander gehört haben, wenn das Geräusch der Kutsche, die im Hof zum Ausfahren bereitgemacht wurde, vom Glasbaldachin widerhallte. Oder sie trafen Freunde, die an ihrer Tür vorbei zu einer Wohnung im darüberliegenden Stockwerk gingen. Sie müssen eine Methode entwickelt haben, einander nicht zu sehen und zu hören; so nahe bei seiner Familie zu wohnen bedeutet einiges, denke ich und grüble über meine eigenen Brüder nach. Sie müssen sich gut verstanden haben. Vielleicht hatten sie in der Sache auch keine Wahl. Paris, das bedeutete schließlich Arbeit.
    Das Hotel Ephrussi war ein Familienhaus, zugleich aber auch die Pariser Zentrale eines äußerst einflussreichen Geschlechts. Es
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