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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Autoren: Edmund de Waal
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Anscheinend zerbrachen männliche Bedienstete weniger Porzellan. Und, so entsann sie sich, in diesem Chalet ohne Kinder stand Porzellan auf jeder nur verfügbaren Oberfläche.
    Charles war in mittleren Jahren, verglichen mit seinen unendlich glamouröseren Brüdern schien er aber schon alt. Elisabeth erinnerte sich bloß an seinen prächtigen Bart und dass er eine äußerst fein gearbeitete Uhr aus der Westentasche zog. Und dass er ihr, wie ältere Verwandte das zu tun pflegen, eine Goldmünze geschenkt hatte.
    Doch sie erinnerte sich auch sehr deutlich und lebhafter, dass sich Charles niedergebeugt und ihrer Schwester das Haar zerstrubbelt hatte. Ihre Schwester Gisela - jünger und viel, viel hübscher - fand immer solche Beachtung. Charles hatte sie seine kleine Zigeunerin genannt, seine bohemienne.
    Das ist meine mündliche Verbindung zu Charles. Es ist Geschichte und fühlt sich doch, wenn ich es niederschreibe, nach wenig an.
    Das, von dem ich ausgehen kann - die vielen männlichen Bediensteten, die etwas abgedroschene Geschichte von der geschenkten Münze -, scheint in einer Art melancholischem Halbdämmer zu liegen, wenn mir auch das Detail mit der russischen Flagge recht gut gefällt. Ich weiß natürlich, dass meine Verwandten Juden und dass sie atemberaubend reich waren, aber ich möchte keine sepiagetönte Familiensaga schreiben, keine elegische mitteleuropäische Verlustgeschichte. Und ganz sicher möchte ich aus Iggie keinen alten Großonkel im Studierzimmer machen, eine Figur wie Bruce Chatwins Utz, der mir die Familiengeschichte überantwortet: Nimm dies, gib acht darauf.
    Eine solche Geschichte, denke ich, würde sich praktisch von selber schreiben. Ein paar zusammengeflickte wehmütige Anekdoten, etwas über den Orient-Express natürlich, ein bisschen Herumschlendern in Prag oder einem ähnlich photogenen Ambiente, ein paar Google-Schnipsel über Ballsäle in der Belle Epoque. Das wäre schön nostalgisch. Und dünn.
    Nostalgie über all den verlorenen Reichtum und Glanz von vor einem Jahrhundert steht mir nicht zu. Und etwas Dünnes interessiert mich nicht. Ich möchte wissen, welche Beziehung es gab zu diesem hölzernen Ding, das ich in meinen Fingern wende - hart und knifflig und japanisch -, und wo es gewesen ist. Ich möchte die Türklinke angreifen können, sie niederdrücken und fühlen, wie die Tür sich öffnet. Ich möchte in jeden Raum gehen, wo dieses Objekt existiert hat, möchte sein Volumen spüren, wissen, welche Bilder an der Wand hingen, wie das Licht aus den Fenstern einfiel. Und ich möchte wissen, in wessen Händen es war, was jemandem daran lag, was er darüber dachte - falls er das tat. Ich möchte wissen, wovon es Zeuge war.
    Melancholie, denke ich, ist eine Art gedankenlose Verschwommenheit, eine Ausstiegsklausel, ein erdrückender Mangel an Bildschärfe. Und dieses Netsuke ist eine kleine, unverwüstliche Entladung von Genauigkeit. Es verdient dafür ebendiese Art von Genauigkeit.
    Das alles ist wichtig, denn meine Arbeit besteht darin, Gegenstände herzustellen. Für mich ist es nicht nebensächlich, wie Objekte angefasst, benutzt und weitergegeben werden. Das ist mein Thema. Ich habe Tausende, Abertausende Gefäße gemacht. Bei Namen bin ich nicht gut, ich stottere und rede herum, bei Gefäßen aber bin ich gut. Ich kann das Gewicht einer Töpferei im Kopf behalten, ihre Ausgewogenheit, die Art, wie die Oberfläche sich zum Rauminhalt verhält. Ich kann lesen, wie ein Rand Spannung aufbaut oder verliert. Ich kann spüren, ob das Gefäß hastig oder mit Sorgfalt hergestellt wurde. Ob es Wärme besitzt.
    Ich kann sehen, wie es sich zu den Objekten verhält, die in seiner Nähe stehen. Wie es ein kleines Stück Welt um sich herum verdrängt.
    Ich kann mich auch erinnern, ob etwas zur Berührung mit der ganzen Hand oder bloß mit den Fingern einlud oder einen Abstand nehmen hieß. Etwas zu berühren ist nicht unbedingt besser als etwas nicht zu berühren. Manche Dinge in der Welt sind dafür geschaffen, aus der Entfernung betrachtet zu werden, man sollte nicht an ihnen herumfummeln. Als Töpfer finde ich es ein wenig eigenartig, wenn Leute, die meine Gefäße besitzen, von ihnen reden, als wären sie lebendig: Ich bin nicht sicher, ob ich mit dem Nachleben meiner Schöpfungen zurechtkomme. Doch manche Objekte scheinen den Pulsschlag ihres Geschaffenwerdens zu behalten.
    Dieser Pulsschlag beschäftigt mich. Ein Atemzug des Innehaltens, bevor man etwas berührt oder nicht
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