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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Autoren: Edmund de Waal
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diesem Sommer fand in der Britischen Botschaft ein Empfang für die Studenten statt. Ich sollte auf Japanisch eine Rede darüber halten, was ich in meinem Jahr gelernt hatte, und über die Brückenfunktion der Kultur für unsere beiden Inselnationen. Ich hatte geübt, bis ich es nicht mehr aushielt. Iggie und Jiro waren gekommen, und ich sah, wie sie mir über ihre Sektgläser hinweg aufmunternd zuzwinkerten. Nachher klopfte mir Jiro auf die Schulter, und Iggie gab mir einen Kuss; lächelnd, komplizenhaft meinten sie, mein Japanisch seijozu desu ne - fachmännisch, gekonnt, unvergleichlich.
    Sie hatten es sich gut eingerichtet, die beiden. In Jiros Wohnung war ein japanisches Zimmer mit Tatami-Matten und dem kleinen Schrein mit Fotos seiner und Iggies Mutter, Emmy; davor sprachen sie Gebete und läuteten Glöckchen. Auf der anderen Seite der Tür, in Iggies Wohnung, stand auf dem Schreibtisch ein Foto von ihnen beiden in einem Boot auf dem Inlandsee, hinter ihnen ein kiefernbestandener Berg, Sonnenflecken auf dem Wasser. Es ist Januar 1960. Jiro, sehr gut aussehend, das Haar zurückgestrichen, hat einen Arm um Iggies Schulter gelegt. Und noch ein Bild, aus den Achtzigern, auf einem Kreuzfahrtschiff irgendwo vor Hawaii, in Abendkleidung, Arm in Arm.
    Am längsten zu leben ist schwer, flüstert Iggie.
    In Japan alt zu werden ist wunderbar, sagt er dann lauter. Mehr als mein halbes Leben bin ich jetzt hier.
    Vermisst du etwas von Wien? (Warum nicht ganz ehrlich sein und fragen: Was fehlt dir, wenn du alt bist und nicht in dem Land lebst, in dem du geboren wurdest?)
    Nein. Ich bin erst 1973 wieder hingefahren. Es war drückend. Erstickend. Jeder kennt einen. Man kauft in der Kärntner Straße einen Roman und wird gefragt, ob sich die Mama schon von der Erkältung erholt hat. Man konnte sich nicht rühren. Im Haus alles voller Gold und Marmor. Es war so finster. Hast du unser altes Haus an der Ringstraße gesehen?
    Weißt du, sagt er plötzlich, dass japanische Zwetschkenknödel besser schmecken als Wiener Zwetschkenknödel?
    Ja, doch, fährt er nach einer Pause fort, Papa hat immer gesagt, er würde mich in seinen Club einführen, wenn ich alt genug sei. Die Sitzungen waren am Donnerstag, irgendwo bei der Oper, seine Freunde waren dort, seine jüdischen Freunde. Er ist an Donnerstagen immer so gut aufgelegt heimgekommen. Der Wiener Club. Ich wollte immer mit ihm hingehen, aber er hat mich nie mitgenommen. Ich bin dann nach Paris gegangen und nach New York, weißt du, und dann kam der Krieg.
    Das fehlt mir. Das hat mir gefehlt.
     
    Iggie starb 1994, bald nachdem ich nach England zurückgekehrt war. Jiro rief mich an: Iggie war nur drei Tage im Krankenhaus gewesen. Es sei eine Erlösung gewesen. Ich flog zum Begräbnis nach Tokio. Wir waren zwei Dutzend, ihre alten Freunde, Jiros Familie, Frau Nakamura und ihre Tochter, in Tränen aufgelöst.
    Dann die Kremation; wir versammeln uns, die Asche wird gebracht, einer nach dem anderen nehmen wir lange schwarze Stäbchen und legen die unverbrannten Knochenfragmente in eine Urne.
    Wir gehen zum Tempel, wo sich Iggies und Jiros Begräbnisstätte befindet. Zwanzig Jahre zuvor haben sie das Grabmal geplant. Der Friedhof liegt auf einem Hügel hinter dem Tempel, jede Grabstelle ist von Steinmäuerchen umgeben. Dort steht ein grauer Grabstein, ihre beiden Namen sind bereits eingraviert, davor Platz für Blumen. Eimer mit Wasser, Bürsten und lange Holztafeln mit gemalten Inschriften. Man klatscht dreimal in die Hände, begrüßt seine Verwandten und entschuldigt sich, dass es so lange her ist seit dem letzten Besuch; dann reinigt man den Grabstein, entfernt alte Chrysanthemen und stellt neue ins Wasser.
    Im Tempel wird die Urne auf ein kleines Podest gesetzt, davor eine Fotografie von Iggie: die mit dem Smoking auf dem Kreuzfahrtschiff. Der Abt singt ein Sutra, wir opfern Weihrauch, und Iggie erhält seinen neuen buddhistischen Namen, sein kaimyo, das ihm in seinem nächsten Leben Beistand leisten soll.
    Dann sprechen wir über ihn. Ich versuche auf Japanisch auszudrücken, wie viel mir mein Großonkel bedeutet, es gelingt mir nicht, da ich weinen muss und mein Japanisch trotz meines teuren Zweijahresstipendiums nicht gut genug ist, wenn ich es brauche. So sage ich eben in diesem Raum, in diesem buddhistischen Tempel in diesem Vorort von Tokio, Kaddisch für Ignaz von Ephrussi, der so fern ist von Wien, für seinen Vater und seine Mutter, seinen Bruder und seine Schwestern in ihrer
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