Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Autoren: Edmund de Waal
Vom Netzwerk:
behutsam zurück zu den Dutzenden anderen Tier- und Menschenfiguren auf den Glasborden.
    Ich füllte die Schälchen, die in der Vitrine standen, mit Wasser, damit die Elfenbeinarbeiten in der trockenen Luft nicht rissig wurden.
    Hab ich dir erzählt, sagte er dann, wie sehr wir sie als Kinder geliebt haben? Dass mein Vater und meine Mutter sie von einem Cousin in Paris geschenkt bekamen? Und hab ich dir die Geschichte von Annas Schürzentasche erzählt?
    Die Unterhaltung konnte sonderbare Wendungen nehmen. So beschrieb er etwa im einen Moment, wie ihre Köchin in Wien seinem Vater zum Geburtstagsfrühstück Kaiserschmarren zubereitet hatte, dicken, staubzuckerbestreuten Pfannkuchen, den der Butler Josef mit Grandezza ins Esszimmer trug und mit einem großen Messer zerteilte; wie sein Papa zu sagen pflegte, nicht einmal der Kaiser könne seinen Geburtstag besser beginnen. Und im nächsten Augenblick redete er dann über Lillis zweite Ehe. Wer war Lilli?
    Gott sei Dank, dachte ich, ich hatte zwar keine Ahnung von Lilli, doch wusste ich wenigstens, wo sich einige der Geschichten zutrugen: in Bad Ischl, in Kövecses, in Wien. Während in der Dämmerung die Beleuchtung an den Baukränen anging und das Licht immer weiter hinein in die Bucht von Tokio fiel, dachte ich, dass ich allmählich eine Art Sekretär wurde und vielleicht aufzeichnen sollte, was er über Wien vor dem Ersten Weltkrieg erzählte, dass ich mit einem Notizbuch neben ihm sitzen sollte. Ich tat es nie. Es kam mir förmlich und unpassend vor. Und gierig: Was für eine tolle, üppige Geschichte, davon nehm ich mir was. Wie auch immer, mir gefiel die Art und Weise, wie die Wiederholung die Dinge glattschleift; Iggies Geschichten hatten etwas von Bachkieseln.
    In diesem Jahr der Nachmittage hörte ich davon, wie stolz ihr Vater auf die Klugheit von Iggies älterer Schwester Elisabeth gewesen war und dass Mama deren gewählte Sprache nicht gemocht hatte. Red doch vernünftig! Oft sprach er etwas beklommen von einem Spiel mit seiner Schwester Gisela: Sie mussten etwas Kleines aus dem Salon holen, es die Treppen hinunter und über den Hof schaffen, den Stallburschen ausweichen, dann die Kellertreppe hinunter und es in den Gewölben unter dem Haus verstecken. Und dann die anderen herausfordern, es zurückzuholen; und wie er einmal im Dunkeln etwas verloren hatte. Es schien eine unvollendete, zerfranste Erinnerung.
     
    Eine Menge Geschichten über Kövecses, ihr Landhaus in der Slowakei. Wie ihn seine Mutter Emmy im Morgengrauen geweckt hatte, als er zum ersten Mal allein mit einem Jagdhüter und einem Gewehr hinausging, um in den Stoppelfeldern Hasen zu schießen, wie er nicht hatte abdrücken können, als er ihre Ohren in der kühlen Luft zittern sah.
    Wie Gisela und Iggie auf Zigeuner mit einem angeketteten Tanzbären stießen, die am Rand des Landguts am Bach ihr Lager aufgeschlagen hatten, und voller Schreck den ganzen Weg zurückrannten. Wie der Orient-Express an der Haltestelle stehen blieb und der Bahnhofsvorsteher ihrer weißgekleideten Großmutter heraushalf, wie sie ihr entgegenliefen, um sie zu begrüßen, und das in grünes Papier eingeschlagene Kuchenpaket in Empfang nahmen, das sie in Wien beim Demel für sie gekauft hatte.
    Wie Emmy ihn beim Frühstück ans Fenster holte, um ihm einen Baum im Herbstlaub vor dem Esszimmer zu zeigen, über und über voller Distelfinken. Wie er ans Fenster pochte und sie aufflogen, und der Baum glühte immer noch golden.
    Nach dem Essen spülte ich das Geschirr, während Iggie ein Schläfchen hielt, und versuchte dann meine Aufgaben zu erledigen; einen karierten Papierbogen nach dem anderen füllte ich mit meinen unbeholfenen Versuchen. Ich blieb, bis Jiro mit den japanischen und englischen Abendzeitungen und den Croissants für das Frühstück von der Arbeit kam. Jiro legte Schubert auf oder Jazz, wir nahmen einen Drink, und dann ließ ich sie allein.
    Ich hatte ein sehr hübsches Zimmer in Mejiro gemietet, es blickte auf einen kleinen Garten voller Azaleen. Ich hatte eine elektrische Kochplatte und einen Teekessel und tat mein Bestes, doch an den Abenden war mein Leben sehr nudelzentriert und ziemlich einsam. Zweimal im Monat ging ich mit Jiro und Iggie zum Abendessen oder in ein Konzert. Sie luden mich auf Drinks ins Imperial ein und dann zu wunderbaren Sushi oder Steak Tatare oder, als Hommage an unsere Bankiersvorfahren, zu Boeuf á la financiere. Die Gänseleber, Iggies Grundnahrungsmittel, lehnte ich ab.
    In
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher