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Gute Nacht Zuckerpüppchen

Gute Nacht Zuckerpüppchen

Titel: Gute Nacht Zuckerpüppchen
Autoren: Heide Glade-Hassenmüller
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1

    Es klingelte.
    Die Kinder zählten: einmal, zweimal, dreimal.
    »Es ist für uns«, sagte Achim und zog fröstelnd die Bettdecke über die Schultern. Es war kalt an diesem Februarmorgen 1947. Bizarre Eisblumen verwehrten den Blick nach draußen auf die Trümmer des Hinterhofes. Das kreisrunde Loch, das Gaby vor wenigen Minuten als Guckloch in die Eiskristalle gehaucht hatte, wuchs mit spitzen Zacken wieder zu.
    »Dreimal ist für uns«, wiederholte Achim. »Einmal ist für Frau Weitgaß, zweimal für Oma Brinkjewski, und dreimal sind wir.«
    Gaby kaute mahlend auf der Brotrinde. Sie war hart, aber mit viel Spucke wurde aus der harten Kruste ein Brotbrei. Oma Brinkjewski konnte die Rinden nicht beißen. Sie hatte ihr Gebiß auf der Flucht verloren. »Ich hatte es gerade im Schnee saubergemacht, und dann kamen die Tiefflieger.« Noch in der Erinnerung schüttelte Oma Brinkjewski entrüstet den Kopf. »Wer denkt an ein paar Zähne, wenn man fürchtet, ins Gras beißen zu müssen«, fügte sie dann noch hinzu. Sie bewahrte ihre Brotrinden für die Kinder.

    »Gehst du zur Tür?« fragte Achim seine Schwester.
    »Mir ist kalt!« Gaby zog die graue, faserige Wolldecke höher. Die Decke kratzte, aber seit sie sie vom Roten Kreuz zugeteilt bekommen hatten, froren sie nachts nicht mehr.
    »Erzählst du mir dann eine Geschichte, wenn ich die Tür aufmache?« Prüfend steckte Gaby ihren Fuß unter der Decke hervor. Zwei Paar dicke Socken schützten sie vor weiteren Erfrierungen an den Zehen.
    Es klingelte wieder: einmal, zweimal, dreimal.
    »Nun geh schon«, drängte Achim. »Sonst wird die alte Weitgaß wieder wütend. Oder Mutti steht auf.«
    Mutti schlief in dem Zimmer gegenüber, und noch um ein Uhr hatte Achim ihre Nähmaschine rattern hören: Handschuhe in Heimarbeit.
    Gaby glitt von dem oberen Etagenbett nach unten und zog den Wintermantel über ihr Nachthemd.
    »Vergiß die Geschichte nicht«, sagte sie, bevor sie auf ihren Socken den langen, dunklen Flur zur Eingangstür lief.
    »Wer ist da?«
    Du mußt immer fragen, wer da ist, bevor du die Tür aufmachst, hatte Mutti ihr eingeschärft. Gaby begriff das. Sie dachte an den Wolf und die sieben Geißlein. Die waren gefressen worden, weil sie den Wolf hereingelassen hatten. Nur das Jüngste nicht. Das hatte sich im Uhrenkasten versteckt. Sie hatten keinen Uhrenkasten. Sie hatten nichts mehr, alles war verbrannt. Die Betten hatten sie vom Pastor bekommen und Tisch und Stühle von dem Altwarenhändler um die Ecke.

    »Ich möchte zu Frau Mangold«, rief ein Mann. Gaby überlegte. Frau Mangold war Mutti, und Mutti schlief, weil sie nachts lange arbeitete.
    »Meine Mutter schläft«, sagte Gaby zu der Stimme hinter der Tür. Sie zog den Mantel über ihrer Brust zusammen. Es war eiskalt im Flur, und sie wollte zurück in ihr Bett und zu den Brotrinden.
    »Mach bitte auf«, rief der Mann. »Ich bin ein Kriegskamerad deines Vaters.«
    Gaby drehte sich um und lief zurück zu Achim. »Da ist einer von Vati«, sagte sie. »Aber Vati ist doch tot?«

    Gaby erinnerte sich an den Tag, als das Telegramm kam. Es war schon eine Zeitlang her, aber Muttis Schrei gellte noch in ihren Ohren. So hatte Mutti noch nie geschrien, nicht einmal, als sie nachts aus dem Fenster springen mußten, weil eine Brandbombe in ihren Keller gefallen war und sofort alles in Flammen stand. Da hatte Mutti nur mit Gaby zusammen geweint, weil sie Mümmelmann nicht mehr retten konnten. Mümmelmann jammerte und schrie wie ein Baby, aber sein Stall lag hinter dem Feuerherd.
    Frau Weitgaß hatte Mutti das Telegramm gegeben.
    »Setzen Sie sich lieber, Frau Mangold. Ein Telegramm in diesen Tagen bedeutet nichts Gutes.«
    Mutti blieb stehen und riß mit zitternden Fingern den Umschlag entzwei. Gaby sah zu ihr hoch. Wie schön sie ist, hatte sie gedacht. Wie Schneewittchen, weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz. Jetzt wurde Mutti ganz weiß. Und sie las und las.
    Gerade überlegte Gaby, wie lang so ein Telegramm ist, als der Schrei aus Mutti herausbrach. Dann fiel Mutti um, und es gab eine Riesenaufregung. Achim hatte sie bei der Hand genommen und aus dem Zimmer geführt. »Vati ist tot«, sagte er und weinte. Gaby weinte nicht. Sie erinnerte sich nur an Vatis Stoppelbart, wenn er sie nachts einmal aus dem Bett genommen und in die Höhe geschwenkt hatte. »Meine kleine Hummel«, lachte er, weil sie vor Vergnügen brummte.

    Achim kroch unter seiner Decke hervor. »Wenn da einer von Vati ist, mußt du aufmachen.
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