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Der gute Liebhaber

Der gute Liebhaber

Titel: Der gute Liebhaber
Autoren: Steinunn Sigurdardóttir
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letzte Gelegenheit wahrnehmen wollte, um sich über ihn zu mokieren, verließ ihn nie.

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Ein Lied für kleine Ohren
    An dem Tag, an dem sich herausstellte, dass Una schwanger war, hielt Karl den richtigen Zeitpunkt für gekommen, um ihr ein Märchen zu erzählen, das sie noch nicht gehört hatte. Er eilte zur Bäckerei, um ein Marzipanhörnchen für Una und ein Schinkenhörnchen für sich zu kaufen, deckte den Tisch auf dem großen Balkon mit Ástamamas Sonntagsservice (dem gleichen wie am Laufpassmorgen im August, als sie in der Küche Kaffee getrunken hatten).
    Die Nachmittagssonne beschien die Hochhäuser der Weltmetropole in der Ferne, und Una mit den seit jeher kurzen Haaren badete sich im Glanz der gleichen Sonne. Sie trug ein kurzes, besticktes Seidenhemd und Bermuda-Shorts und hatte die nackten Beine übereinandergeschlagen. Karl saß im Schatten und betrachtete sonnenbraune Zehen mit weiß changierenden Nägeln. Nun sahen sie aus wie zehn Konfektstückchen, diese Zehen, die ihm, schon seit sie zu einem Mädchen hinter einem Paravent gehörten, so unerhört lieb waren. Er räusperte sich über seiner Kaffeetasse und erklärte, er wolle ihr ein kleines Märchen erzählen, ein ebenso altes wie neues Märchen.
    Es waren einmal Karl und Una in der Abschlussklasse des Alten Gymnasiums in Reykjavík, die sich seit dem Silvesterfeuer an der Ægisíða, zu dem Karl mit seiner kleinen Nichte Ásta gegangen war, von ganzem Herzen liebten. Sie liebten sich bis zum Abitur und bis zum langen Wochenende im August, als Una mit ihren Freundinnen auf Zeltfahrt ging. Sie kam am Montag zurück in die Stadt und gab Karl am Dienstagmorgen den Laufpass, am Küchentisch mit Kaffee und Biskuitrolle; sie sagte nicht viel und war ungewöhnlich blass um die Nase (als wäre sie krank). Vielleicht hatte sie sich im Zelt erkältet.
    Karl stellte keine Fragen, und deswegen verließ sie das Eckhaus für immer. Er wusste weder ein noch aus, und da der Verlust der Liebsten so schrecklich war, dass auch Tränen nichts ausrichten konnten, setzte er sich ans Klavier und spielte den Valse d’Adieu von Chopin, denselben wie einstmals, als sich ein Mädchen mit kurzen Haaren zur Anprobe in Samt und Spitzen hüllte, sodass daraus eine Una Larissa wurde.
    Karl sah sein Leben klar vor sich, er konnte keine andere Frau lieben und war deswegen bereits als ganz junger Mann zum immerwährenden Single-Dasein verurteilt. Vor lauter Schmerz und Trauer wäre er am liebsten auf der Stelle gestorben, aber da das nicht zu Gebote stand, musste er so radikal wie möglich reagieren und so schnell wie möglich fortgehen, nach New York. Eingedenk der Worte seiner Mutter, dass er seiner Schwester Fríða unverzüglich Bescheid sagen sollte, falls er beabsichtigte, in diese Stadt zu gehen, rief er sie an. Und sie stattete auf der Stelle ihrem Bruder, dem Single im Eckhaus, einen Besuch ab.
    Wie gewohnt kam Fríða unverzüglich zur Sache und erklärte, ihre Mutter habe ihr ein Geheimnis über den Vater von Karl anvertraut; der lebe in New York, wohin jetzt seine Reise gehen sollte. Er sei nicht mehr der Jüngste, hieße Karol Ash und sei halb Pole, halb Indianer. Verheiratet und Vater zweier Töchter, streng katholisch. Ihre Mutter Ásta habe es nicht übers Herz gebracht, den Vater anzugeben. Karl könne sich aber in Übereinstimmung mit den vorgegebenen Regelungen über einen Rechtsanwalt mit ihm in Verbindung setzen.
    Daraufhin sagte Karl zu seiner Schwester: Ich habe schon so lange ohne Vater gelebt und ihn nicht vermisst, dass ich kein Bedürfnis verspüre, ihn zu finden. Und mir wird es auch niemals vergönnt sein, ein Kind zu haben, dem ich sagen möchte, wer und wie sein Großvater war. Heute Morgen hat Una Schluss mit mir gemacht. Da man aber weder sein Schicksal kennt noch weiß, was das Leben für einen bereithält, werde ich meinen Vater aufsuchen, und zwar nur aus dem Grund, dass ich – falls ich aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz Nachkommen haben sollte – ihnen etwas mehr über den Großvater sagen kann.
    Fríða bedauerte den Halbbruder wegen des Verlustes der Liebsten und hätte ihn gerne getröstet, aber das war nicht möglich, denn er war untröstlich. Sie ließ allerdings einfließen, dass ihre Mutter mit dem Geheimnis des Vaters nicht auf rechte Weise umgegangen sei, sie hätte sich das Herz erleichtern sollen, solange sie noch lebte.
    Wir verstehen andere Menschen nicht, sagte Karl daraufhin, eingedenk der Tatsache,
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