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Der gute Liebhaber

Der gute Liebhaber

Titel: Der gute Liebhaber
Autoren: Steinunn Sigurdardóttir
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passten, andere waren zu klein geworden und drückten noch formbare Zehen, die schlimmstenfalls krumm bleiben würden.
    Niedrigverdiener und Studenten, Menschen mit Migrationshintergrund und Sonderlinge fanden sich bei den Wartehäuschen ein, in jeder Hinsicht glücklose Menschen bis auf die Tatsache, dass da im Osten etwas geboren wurde, was man literarisch als Morgenröte bezeichnete, hier aber nur ein Streifen helleres Grau im großen Einheitsgrau war. Diesen Menschen war kalt, egal, wie dick vermummt sie waren, und auf einige traf nicht einmal das zu. Wer am schlimmsten dran war, hielt ein blaugefrorenes Kind bei der Hand, und das Kind war noch schlimmer dran als derjenige, der seine Hand hielt.
    In den Schwimmbädern waren an diesem Wintermorgen unnatürlich dürre, sehnige und und eingeschrumpelte Leute über sechzig anzutreffen, Leute, die ohne mit der Wimper zu zucken barfuß über das Eis am Rand des Schwimmbeckens stapften, übertrieben kerngesunde Menschen, denen weder Halsentzündungen noch Herzversagen etwas anhaben konnten, die aber der Gesellschaft und sich selber erhebliche finanzielle Belastungen aufbürden würden, indem sie mindestens bis neunzig lebten, einige womöglich sogar länger.
    Über diesen Leuten, über der Kälte in der Stadt und im Meer hing zu dieser Morgenstunde ein strahlend voller Mond, wie ein ausgesetzter Abkömmling der Sonne. Er gab falsche Versprechungen von Wärme, die niemals von ihm ausgehen konnte, nicht in dieser Stadt, an diesem Meer, nirgends.
    Der Reisende blickte dem Taxi nach und blieb noch eine Weile in der sternenklaren Windstille draußen vor seinem Quartier stehen. Das rote Holzhaus schräg gegenüber war eines der wenigen, die von dem Schattenviertel früherer Zeiten übrig geblieben waren. Die anderen waren entweder den Weg alles Irdischen gegangen, oder man hatte sie einfach zugebaut wie sein Eckhaus, das in unsichtbarem Schweigen hinter einer Ansammlung von Hochhäusern lag.
    Er spitzte die Ohren, als wenn die Musik aus dem Haus mit seinem Lauschen wiederaufleben könnte: Jussi Björling besang eine Frau, die er zwangsläufig liebte, und dann Ástamama und der Schauspieler mit der Bassstimme, die den Walzer aus dem Rosenkavalier zunächst nur summten, ehe sie richtig loslegten:
Ohne mich, ohne mich, jeder Tag dir zu lang … Mit mir, mit mir, keine Nacht dir zu lang …
    Scharfe Eiszapfen hingen in schnurgerader Formation bedrohlich vom Dachvorsprung über der Haustür herunter. Der Reisende hatte sich seit jeher vor Eiszapfen gefürchtet. Menschen waren zu Tode gekommen, wenn sie herunterfielen. Später war ihm klar geworden, dass es sich um perfekte Mordwaffen handelte, denn sie schmolzen.
    Er wollte sich gerade in Bewegung setzen, als sich die Tür des roten Hauses öffnete und ein junger Mann mit bronzefarbenem Haar die Treppe heruntersprang. Als die Haustür ins Schloss fiel, brach ein Eiszapfen ab und zersplitterte auf dem Treppenabsatz. Der junge Mann, der um ein Haar davon getroffen worden wäre, blickte sich noch nicht einmal um, sondern lief in Richtung Meer.
    Der Reisende ließ den Aufzug links liegen und schnellte die Stufen hoch wie ein Lachs auf dem Heimweg. Keuchend öffnete er die Tür zum Dachgeschoss und blieb wie angewurzelt stehen, als sich ihm der Blick auf die Tankstelle eröffnete, auf das schwarze Meer und eine eisengraue Esja unter dem niedrigen Mond.
    Er sank auf einen weißen Ledersessel am Fenster. Das Herz brauchte lange, um den richtigen Takt wiederzufinden, während er die Aussicht betrachtete, hinter dem Schatten des Kusses auf dem Gesicht des Mädchens, an dem Abend, als die Gegenwart Gestalt annahm und sich in eine Zukunft verwandelte.
    Es war ebenfalls Februar gewesen. Einen Monat und noch länger hatte er bereits dem Mädchen nahe sein dürfen, das manchmal bezaubernd und manchmal verschmitzt lächelte. Auch nach all den Jahren kannte er beide noch auswendig: das bezaubernde Lächeln, das langsam erlosch und noch Spuren im Gesicht hinterließ, als es schon lange vergangen war – und das verschmitzte Lächeln, das so schnell kam und ging, dass man sich wirklich ins Zeug legen musste, um es nicht zu verpassen.
    Es war an einem Unwetterabend nach dem Kino. Sie boten dem Sturm und den anbrandenden Wellen an der Skúlagata Trotz, genehmigten sich bei der Tankstelle ein Würstchen und eine Cola, und dann ging sie mit ihm nach Haus und sagte nach einem Kuss etwas, das wie Ja klang. Und jetzt breitete sich der Ort, an dem
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