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Der gute Liebhaber

Der gute Liebhaber

Titel: Der gute Liebhaber
Autoren: Steinunn Sigurdardóttir
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gedauert.
    Karl Ástuson senkte den Kopf und weinte. Er sah die Frau vor sich, die ein Armband mit Lapislazuli betrachtete, wie um nachzusehen, wie spät es war.
    Es wäre wohl eigentlich eher an mir zu weinen, sagte Liina Minuti und reichte dem Mann ein Papiertaschentuch.
    Es tut mir leid, ich kann nichts dazu.
    Für mich kam nichts anderes in Frage, als ihr zu gestatten, in Frieden zu sterben. Das war es, was sie wollte. Das war nicht zu viel verlangt, es ging mich streng genommen auch nichts an. Und ihr Wunsch ging in Erfüllung, in Frieden in meinen Armen zu sterben. Ich glaube kaum, dass es möglich gewesen wäre, sie zu retten, auch wenn ich etwas unternommen hätte. Wenn sie gerettet worden wäre, hätte sie einen weiteren Versuch unternehmen müssen. Und das ist wirklich ein Aufwand. Sie hatte alles bis ins Detail geplant, den richtigen Zeitpunkt für sich gewählt, nach der Party, nachdem wir uns geliebt hatten. Ich hatte nicht das Recht, in ihre Pläne einzugreifen.
    Wann genau ist sie gestorben?
    Morgens um halb elf.
    Während Karl Ástuson das Buch über sich und Doreen Ash kursorisch las (die wissenschaftlichen Passagen würden für immer ein Buch mit sieben Siegeln für ihn bleiben), hatte die Autorin ihren Abgang aus der Welt vorbereitet und Champagner mit der Frau getrunken, die sie liebte. Die Tabletten hatte sie vermutlich geschluckt, als er im Zug auf dem Weg nach Hause war, innerlich aufgewühlt von dem, was er gelesen hatte. Als er endlich unter der lang ersehnten Dusche stand, hatte Doreen Ash sich an die schlafende Liina Minuti geschmiegt und darauf gewartet, das Bewusstsein zu verlieren, geduldig, aber froh darüber, dass der Tod nahe war. Bestimmt auch ängstlich. Das mussten doch alle sein, die auf den Tod warteten, egal, wie froh sie waren – denn man kannte ihn nur vom Hörensagen, und Informationen dieser Art sind unzuverlässig.
    Doreen Ash war ihm nie näher gewesen als in diesem Augenblick, als er die letzten Nachrichten von ihr erhielt.
    Wie tragisch, sagte er. Und hörte sich das Wort wiederholen: Tragisch.
    Halb elf morgens ist eine gute Zeit, um zu sterben. In ihrer letzten Stunde schien die Sonne ins Zimmer. Ich bilde mir ein, dass sie diese letzte Sonne gespürt hat. Sie war eine Sonnenanbeterin. Ich weiß, dass ihr euch deswegen begegnet seid, wegen der Sonne hielt es sie nicht in der Bar, und du hast sie auf dem Bürgersteig angesprochen.
    Ja.
    Und jetzt solltest du alles daransetzen, sie zu vergessen.
    Ich werde sie auf meine Weise vergessen.
    Pass auf, dass du dich nicht in eine Verstorbene verliebst.
    Da besteht keine Gefahr, hatte Karl Ástuson bereits auf den Lippen, aber im letzten Moment erinnerte er sich daran, mit wem er sprach, und sagte: Ich passe auf.
    Lass sie nicht zu viel Platz einnehmen, das hätte sie nicht gewollt. Du baust dir ein neues Leben auf, und dir dabei in die Quere zu kommen, wäre das Letzte gewesen, was sie gewollt hätte. Das hat sie schon damit gezeigt, dass sie dir keinen Abschiedsbrief geschrieben hat. Allerdings habe ich den Verdacht, dass man den
Guten Liebhaber
als einen monumentalen Abschiedsbrief an dich betrachten kann.
    Das kann nicht sein.
    Wie dem auch sei, ich habe zumindest viel Stoff zum Nachdenken.
    Das Denken kann ich dir nicht verbieten, aber du befindest dich auf Irrwegen.
    Ihr ist etwas passiert, und das hat sie meiner Meinung nach in dem Buch beschrieben; etwas, was ihre Sicht auf die Dinge veränderte und sie dazu brachte, sich mit mir zusammenzutun. Für mich ist das natürlich nicht schön, denn aus ihrer Sicht war es eine Kapitulation, sich mit mir einzulassen. Der Anfang vom Ende.
    Das darfst du nicht sagen.
    Vielleicht nicht. Ich kann es dabei bewenden lassen, mich auf den Alkohol zu fixieren. Der hat ihr Leben bis ins Mark vergiftet. Sie war auf einer Stufe angelangt, wo so mancher Tag damit begann, dass sie sich zwischen Würgeanfällen zu diversen Schnäpsen zwingen musste. Es ist schrecklich, mit ansehen zu müssen, wie ein Mensch, den man liebt, sich so misshandelt. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe es natürlich versucht.
    Kaum zu glauben, dass du mit all deinen Kenntnissen und deiner Liebe ihr nicht helfen konntest.
    Ihr persönliches Unglücklichsein wog schwerer als alle Liebe und alle Kenntnisse der Welt.
    Sie ist mir gar nicht wie ein unglücklicher Mensch vorgekommen.
    Lebenskraft und Lebensart können darüber hinwegtäuschen.
    Woher kam dieses Unglück?
    Unglück und Verhängnis sind ein Geheimnis.
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