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Der grüne Stern

Der grüne Stern

Titel: Der grüne Stern
Autoren: Lin Carter
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dem Ast kreiste, und ich fragte mich, ob sie mich hier sehen konnte, sterbend, meinen Kopf im Schoß ihrer Widersacherin, und ob sie begreifen würde, daß der Zufallstreffer eines hinterlistigen Verräters den Helden von tausend Legenden in dem Moment niedergestreckt hatte, wo er am dringendsten gebraucht wurde. Welche Ironie des Schicksals! Welche Genugtuung für Sligons finstere Dämonenseele, wo immer sie jetzt sein mochte …
    Mit versagender Stimme krächzte ich zu Niamh hinauf, sie solle sich davonmachen und fliehen, so weit sie in der Nacht käme, damit ihre Feinde sie nicht fänden. Und zuletzt kam eine Art von Wahn über mich, und ich versprach, daß sie und ich einander wiedersehen würden, daß ich irgendwann irgendwo zu ihr kommen würde.
    Durch die Dunkelheit und die trüben Schleier, die sich vor meinen Augen verdichteten, erhaschte ich einen letzten Blick auf sie. Aber dann war sie fort, ein undeutlicher Umriß, der mit der Dunkelheit verschmolz und spurlos in ihr verschwand.
    Niamh! dachte ich. Irgendwie, irgendwo werden wir uns wiedersehen …
    Und dann, wie er zu allen Menschen kommt, so sehnlich und dringend sie sich auch das Leben wünschen mögen, kam der Tod zu mir, und ich begann meine lange Wanderung jene dunkle Straße hinab zu den Toren, von denen es keine Wiederkehr gibt.
    Und so enden die Lebensgeschichten der meisten Menschen. Ihr Leben erfüllt sich an einem vorbestimmten Ende.
    Aber für mich hielt das Schicksal ein anderes und weit seltsameres Ende bereit.
    Es mochte eine Gnadenfrist sein, aber tatsächlich war diese Gnadenfrist ein grausameres Ende als die einfache Würde des Todes es je sein kann.
    Ich weiß nicht, warum Gott oder das Schicksal oder der Zufall – oder welche andere namenlose und unbekannte Instanz, die über die Geschicke der Menschen bestimmt – mir dieses seltsame und unirdische Wunder zuteil werden ließ. Ich wünschte, ich wüßte es, denn ohne es zu verstehen, kann ich nichts daraus lernen; nichts als Trauer und einen Schmerz, der mich nicht verlassen will, und eine Frage, die mich Tag und Nacht verfolgt und nicht zur Ruhe kommen läßt.
    Eine Frage, auf die ich keine Antwort habe.
    Eine Frage, die vielleicht niemals beantwortet werden wird.
    Aber ich will alles genauso berichten, wie es sich zugetragen hat.
    Da waren – eine Dunkelheit, die absolut war, und ein Schlaf, der ewig währte.
    Und dann, nach einer unermeßlichen Zeitspanne, wurde ich aus dem Schlaf erweckt, den ich für ewig gehalten hatte. Da war eine Hand, die eine Ampulle an meine Nase hielt; eine zerbrochene Ampulle, die in den nassen Falten eines Taschentuchs lag. Ich inhalierte einen stechenden Geruch, der mich würgen und husten machte.
    Undeutlich, trübe konnte ich etwas ausmachen.
    Da war ein Mann in einem langen weißen Mantel, der sich über mich beugte. Er hatte ein ernstes, nachdenkliches Gesicht, glattrasiert, mit durchdringenden Augen und dunklem Haar, das an den Schläfen ergraut war.
    Die Schatten lösten sich allmählich auf, und ich konnte an dem Mann im weißen Mantel vorbeisehen. Hinter ihm war die dicke, mütterlich wirkende Gestalt einer Frau, die sich mit einem Taschentuch die Augen wischte.
    Ich glaubte, diese Frau zu kennen. Und hinter ihr waren hohe Fenster, durch die ich bewaldete Hügel und Wiesen und Bäume sehen konnte, die mir ebenfalls seltsam vertraut waren.
    »Er kommt anscheinend zu sich.«
    Es war der Mann im weißen Mantel, der sprach. Seine Sprache klang seltsam in meinen Ohren, breit und nasal, aber zugleich ungemein vertraut. Mein Gehirn war betäubt und schwerfällig, dumpf und wie verstopft von den Überresten irgendeines langen Alptraums. Ich versuchte zu verstehen, was mit mir geschah.
    »Oh, Gott sei Dank, Doktor!«
    Das war die dicke Frau. Auch ihre Sprache wirkte komisch und zugleich vertraut, genau wie ihr Gesicht. Ich hatte den Eindruck, daß ich dieses Gesicht und diese Stimme irgendwo, irgendwann einmal gekannt hatte, wie in einem anderen Leben …
    Wie in einem anderen Leben …
    Und so fiel mir alles wieder ein.
    Ich erkannte die ängstliche Stimme unserer Haushälterin und ihre bekümmerten Züge.
    Und ich erkannte die Hügellandschaft jenseits der Fenster. Es waren die vertrauten grünen Hügel von Connecticut, und dies war mein Haus, und ich – ich lebte noch.
    Oder lebte wieder.
    Der Arzt wandte sich ab und legte die zerbrochene Ampulle und das Taschentuch auf den Nachttisch. Dann ergriffen seine kräftigen Finger mein Handgelenk und
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