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Der grüne Stern

Der grüne Stern

Titel: Der grüne Stern
Autoren: Lin Carter
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der beträchtliche Reichtum meines Vaters konnte in den Jahren vor der Entwicklung des Salk-Impfstoffs keine Heilung meiner Kinderlähmung erkaufen.
    Für einen Krüppel wie mich ist es vielleicht natürlich, daß ich meine Aufmerksamkeit nach innen wandte. Okkulte Lehren und Überlieferungen zogen mich seit meiner frühesten Jugend an. Ich hatte die besten Privatlehrer und lernte Latein, Griechisch, Sanskrit und Althebräisch. Die alte östliche Wissenschaft, die ›Eckankar‹ genannt wurde, was eigentlich Seelenreisen bedeutet, die Projektion des sogenannten Astralleibs, faszinierte mich. Auf meiner Suche nach den Geheimnissen dieser verlorenen Kunst, dieser vergessenen Wissenschaft, ging ich weit. Tausend Bücher gaben Hinweise und Andeutungen, aber keins konnte das Geheimnis enthüllen.
    In dem seltsamsten aller Bücher, dem Bardo Thodol, stieß ich zum erstenmal auf den Titel des alten uigurischen Werks. Das Bardo Thodol, eine Geographie der Reisen der Seele zwischen Tod und Wiedergeburt, berichtet vom Kan Chan Ga. Brüchige Schriftrollen aus einem verlassenen alten Lamakloster in der östlichen Dsungarei, die von einem mongolischen Mönch nach Tibet gebracht und von dort über die indische Grenze geschmuggelt wurden, enthielten weitere Anhaltspunkte. Hundert Agenten durchforschten in meinem Auftrag Museen und Bibliotheken, und eineinhalb Dutzend andere, die meisten von ihnen tibetische Mönche, von meinen Mittelsmännern an ihren Exilorten angeworben und als Hirten und wandernde Händler in die verschlossenen Gebiete Zentralasiens entsandt, durchsuchten die Hochländer und entlegenen Täler zwischen Kuenlun und Himalaya, zwischen Karakorum und Kuku-Nor, und schließlich wurde das Buch aufgefunden. Der uigurische Gelehrte Masud Burchan und der uigurisch-mongolische Enkel des letzten Dschebtsundamba Khutukthu von Urga, ein hervorragender Sprachwissenschaftler, übersetzten für mich den altuigurischen Text, nachdem ich versprochen hatte, daß das heilige Buch dem Dalai Lama zurückgegeben würde, sobald ich das Wissen besäße, das ich suchte. Das ist inzwischen geschehen.
    Ich studierte die Übersetzung mit einer inneren Erregung, die mein Leser sich nur schwer vorstellen mag. Wenn das Geheimnis in diesen alten Pergamentseiten lag, dann konnte ich, der in vierundzwanzig Jahren nicht einen selbständigen Schritt getan hatte, mit der Schnelligkeit des beflügelten Gedankens die Erde bereisen. Ungesehen würde ich durch den menschenwimmelnden Basar von Damaskus streifen, im Mondlicht das lächelnde Rätsel der Sphinx betrachten, die im Dschungel versinkenden Tempel von Angkor Vat und die geheimnisvollen Ruinen von Tihuanaco auf dem Hochplateau der Anden besuchen.
    Stück für Stück gab das seltsame Manuskript sein Geheimnis preis. Der Mensch ist mehr als Körper und Geist und Seele, hatte der namenlose Weise der Gobi geschrieben. Seine Natur ist siebenfach: das tierhafte Fleisch, der materielle Körper selbst; die Lebenskraft, die dieses Fleisch belebt; das bewußte Selbst; das Gedächtnis, das alles enthält, was ein Mensch gesehen und gefühlt und erlebt hat; der Astralleib, das Fahrzeug der Seele auf der zweiten Ebene; der ätherische Körper, der Kelch, der im astralen Fahrzeug enthalten ist; und schließlich die unsterbliche Seele selbst, die kostbare Flamme im Kelch.
    Subtil miteinander verbunden sind diese sieben Teile des Selbst, die den Menschen ausmachen. Im tiefen Schlaf oder in hypnotischer Trance geschieht es zuweilen, daß der Astralleib wandert und in seltsamen Träumen Visionen entfernter Orte und abwesender Freunde heraufbeschwört. Aber nur strenge Disziplin kann den ätherischen Körper und die in ihm enthaltene Seele zusammen mit dem bewußten Selbst freisetzen. Dies war das Geheimnis, das ich so lang gesucht hatte. Endlich stand ich auf seiner Schwelle.
    Nacht um Nacht lag ich in meinem Bett und blickte sehnsüchtig zu den Sternen auf, erschöpft von den Konzentrationsübungen und müde von den okkulten Disziplinen, in denen ich mich geübt hatte. Wenn ich die vergessene Kunst der Seelenwanderung beherrschen lernte, würde ich nicht mehr angekettet und erdgebunden sein, nicht mehr eingesperrt in einen hilflosen, verkrüppelten Körper. Ich würde frei sein – frei, wie nur wenige jemals frei waren – und wie hungerte ich nach dieser Freiheit!
    Tag für Tag übte ich die innere Konzentration, das ›Lösen der Bande‹. Selbst von den meditationserfahrenen Weisen des alten Tibet hatten nur
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