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Der grüne Stern

Der grüne Stern

Titel: Der grüne Stern
Autoren: Lin Carter
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Zustand zu gewöhnen begann, war ich meiner selbst in keinem körperlichen Sinne bewußt. Ein Mensch von Fleisch und Blut kann sich nackt ausziehen, aber tausend kleine Wahrnehmungen lassen ihn seiner körperlichen Hülle bewußt bleiben; er spürt den Teppich unter seinen bloßen Sohlen, den kühlen Luftzug an seinen nackten Lenden, nimmt die zahllosen Funktionen und Vorgänge in seinem Innern wahr, die sich ständig in der einen oder der anderen Weise bemerkbar machen. In meinem neuen Geistzustand fühlte ich nichts von alledem; es war, als ob ich überhaupt keinen Körper besäße.
    Und das war natürlich die Wahrheit.
    Ich hatte mich von meinem Körper befreit.
    Ich war – frei!

2. Jenseits des Mondes
    Ich schwebte zu den Fenstern. Ich weiß keinen anderen Begriff, mit dem ich meine Fortbewegungsart beschreiben könnte. Es war kein Rudern oder Schwimmen durch die Luft. Ich bewegte mich – ohne mich zu bewegen. In meinem körperlosen Zustand war allein der Wille schon Vater der Tat. Ich dachte nur daran, hinüberzugehen und aus dem Fenster zu blicken, und schon war ich dort, ohne irgendeine Empfindung von gewollter, kontrollierter Bewegung.
    Ich blickte hinaus. Die Sonne war bereits untergegangen, nur zwischen den Stämmen der fernen Kiefern brannte noch die rote Glut des Abendhimmels. Plötzlich hatte ich das Verlangen, draußen in der frischen Luft zu sein – und wieder fand ich, daß ich eine Distanz überwunden hatte, ohne daß sich ein Gefühl physikalischer Bewegung eingestellt hätte. Ich schwebte hoch über dem Rasen, der im Schatten der Dämmerung lag. Wäre ich körperlich hiergewesen, so hätte sich wahrscheinlich ein Schwindelgefühl bemerkbar gemacht; doch ich fühlte nichts. Ich hing zehn Meter über dem nassen Gras, aber es war eher wie der Traum eines Fluges, nicht wie das von den Sinnesorganen des Körpers registrierte Erlebnis.
    Ich geriet in eine rauschhafte Begeisterung: ich konnte überallhin, konnte alles tun! Mit der Schnelligkeit des Gedankens erhob ich mich in große Höhe. Die hügelige Landschaft Connecticuts lag ausgebreitet unter mir, das Schachbrettmuster von Feldern und Weideland und kleinen Waldstücken. Dazwischen lagen die Häuser der nächsten Gemeinde, Harritton, und am Westhorizont zeigte sich der ineinander verfließende Siedlungsbrei von Springfield, Worcester und Holyoke mit seinen weit verstreuten Lichtern.
    Wäre ich körperlich so hoch gestiegen, so hätte ich jetzt Kälte und den Druck des Windes gefühlt, aber ich fühlte nichts, noch konnte ich irgendein Geräusch hören, nicht einmal das Pochen meines Herzens oder das Rauschen des Blutes durch die Arterien des inneren Ohrs.
    Doch warum sollte ich sehen, aber nicht hören können? Gewiß, ich war so körperlos wie der Gedanke selbst, und Schallwellen durchdrangen mich, ohne auf den geringsten Widerstand zu stoßen – aber galt dies nicht auch für die Lichtwellen? Und es war das wirkliche Licht, in dem ich sah, nicht der geisterhafte Schein einer Astralsonne. Warum war ich undurchlässig für das Licht, aber durchlässig für Schallwellen und Materie? Das Kern Chan Ga sagte nichts darüber. Und bis zum heutigen Tag kann ich keine befriedigende Erklärung dieses Phänomens anbieten; ich kann nur niederschreiben, was ich erlebte, und anderen, deren Weisheit größer ist als die meine, die Erklärung überlassen.
    Wieder blickte ich hinab. Der Wald, der an mein Grundstück grenzte, war unter mir, eine dunkle Masse, die keine Details mehr erkennen ließ. Durch diesen Wald floß ein kleiner Bach, an dessen Ufern ich als ein Kind gespielt hatte, bevor ich von Kinderlähmung befallen worden war. Eine Laune trug mich hin, und wieder gab es kein Gefühl von Fortbewegung. Die Dunkelheit unter den überhängenden Fichtenzweigen war schwarz wie Tinte, aber der Mond stand am Himmel, und sein matter, silbriger Schein sickerte durch* das Geäst. Der Bach war genauso, wie ich ihn in meiner Erinnerung bewahrt hatte. Ein fetter Waschbär kam aus dem Unterholz und wusch seine Nahrung im sanft dahinströmenden Wasser. Ich beobachtete ihn erfreut. Wäre ich in leibhaftiger Gestalt dagewesen, hätte der wachsame kleine Bursche sich sofort davongemacht, ja, er hätte mich wahrscheinlich eher bemerkt als ich ihn. Nun aber gab er durch nichts zu erkennen, daß er von meiner Gegenwart Witterung bekommen hatte, obwohl er sich einmal sichernd aufrichtete und umherspähte.
    Wie dieser dicke, pelzige kleine Bewohner des Waldes war auch ich
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