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Das Elfenlicht von Arwarah (German Edition)

Das Elfenlicht von Arwarah (German Edition)

Titel: Das Elfenlicht von Arwarah (German Edition)
Autoren: Elisabeth Schieferdecker
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  I.  
Veränderungen
    Auf ironische Weise fand Till es passend, dass der wohl schwerste Tag seines Lebens ein dunkler, verregneter Septembertag war. Obwohl er geschützt unter der bunten Blase aneinandergepresster Regenschirme stand, peitschte ihm der Herbstwind den eiskalten Regen ins Gesicht. Die Sicht war verschwommen, aber auch bei klarem Wetter hätte er die beiden Särge vor sich nur undeutlich wahrgenommen, denn seine Augen waren von den heimlichen Tränen der Nacht gerötet.
    „Ein richtiger Junge weint nicht“, hatte die fremde Frau im Waisenhaus gesagt, in dem er vorübergehend wohnen musste, bis das Jugendamt entschied, dass er von jetzt an bei Tante Lucie, Onkel Philipp und deren drei Kindern wohnen würde. Obwohl sie seine nächsten Verwandten waren, kannte er sie kaum. Bei diesem Gedanken legte sich eine eiserne Hand um sein Herz, das zum Zerspringen raste. Er hörte nichts von den tröstenden Worten des Pfarrers oder dem Schluchzen der anwesenden Trauergäste.
    Während er der Abschiedsmelodie lauschte, die die Regentropfen in monotonem Rhythmus auf die Särge trommelten, schweiften seine Gedanken in die glücklichen Tage seiner bisherigen Kindheit zurück, die nun mit dem tödlichen Unfall seiner Eltern ein jähes Ende gefunden hatte. Tills Vater Stephan und Onkel Philipp waren Brüder und in Saalfeld aufgewachsen, aber während Philipp mit seiner Familie noch immer in Lucies altem Elternhaus wohnte, hatte es Stephan seinerzeit in die Welt hinaus gezogen. Er wollte unbedingt Schiffsbauer werden. Nach dem Abitur ging er zum Studium an die Küste und lernte dort seine zukünftige Frau Teresa kennen.
    Im Gegensatz zu seinen Freunden fand Till immer, dass seine Eltern cool waren. Sie hatten ihm nie Stress gemacht, so wie andere Eltern es scheinbar taten, sondern waren für ihn da gewesen, wenn er sie brauchte. Freilich hatte sein Vater viele, viele Stunden in seinem Konstruktionsbüro auf der Werft verbracht, aber wann immer er eine freie Minute hatte, verbrachte er sie mit seiner Mutter und ihm. Letztes Jahr zu Weihnachten hatte Papa ihm ein kleines, altes Boot gekauft und es gemeinsam mit Till wieder auf Vordermann gebracht. Im kommenden Frühjahr sollte es vom Stapel laufen, aber dazu würde es ja nun nicht mehr kommen. Jetzt musste er hier wohnen, am Ende der Welt sozusagen, fernab von der berauschenden Weite des Wassers, weit weg von seinen Freunden und allem, was ihm in seinem Leben je vertraut gewesen war.
    Sein Blick wanderte zu den Bergen hinüber, die sie Gartenkuppen nannten und der üppige, dunkle Wald erschreckte und faszinierte ihn gleichermaßen. Jetzt bist du aber echt ungerecht, schalt ihn seine innere Stimme. Du solltest ein wenig Dankbarkeit empfinden, dass Onkel Philipp und Tante Lucie dich aufnehmen. Schließlich haben sie auch ohne dich schon genug um die Ohren und die Alternative dazu wäre das Waisenhaus gewesen. Puh! Beim Gedanken an diesen Ort lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Da hätte mir auch die schönste Aussicht aufs Meer nichts genutzt. Nein, vorerst muss ich mich damit abfinden, aber später, später kann ich hier wieder abhauen, so wie Papa es getan hat!
    Inzwischen war der Augenblick gekommen, da seine Eltern in die dunkle, wohlriechende Erde gebettet wurden und er wusste, dass er nun als Erster nach vorn gehen musste, um ihnen eine Handvoll Blumen auf die letzte Reise mitzugeben. Blumen sind gut, sie passen zu Mama, die ihren kleinen Garten liebte, aber für Papa hatte er noch etwas anderes vorbereitet. In seiner Hosentasche trug er zwei kleine Flaschen mit Meerwasser, Sand und Muscheln. Eine für Papa und eine für sich selbst.
    Die Augen der Anwesenden waren wartend auf ihn gerichtet, aber seine Füße versagten ihm den Dienst und schienen geradewegs am Boden zu kleben. Schon befürchtete er zu fallen, da spürte er plötzlich eine kleine, feingliedrige, warme Kinderhand in der seinen. Fest drückten die Fingerchen zu und hielten den Kontakt zu seinem neuen Leben aufrecht, bis er Abschied genommen hatte und der Trauergottesdienst zu Ende war. Es war Flora, das zierliche Nesthäkchen der Familie, die mit ihren großen, grünen Augen fest an Till hing.
    „Du bleibst ja jetzt bei uns!“, flüsterte sie ihm vertraut zu. „Und es wird dir bestimmt gefallen!“
    Till schaute stumm zu seiner kleinen Cousine hinab. Im Augenblick bezweifelte er, dass es ihm überhaupt irgendwann, irgendwo wieder gefallen würde, aber sie blickte ihn so zuversichtlich an, dass
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