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Der Große Krieg: Der Untergang des Alten Europa im Ersten Weltkrieg (German Edition)

Der Große Krieg: Der Untergang des Alten Europa im Ersten Weltkrieg (German Edition)

Titel: Der Große Krieg: Der Untergang des Alten Europa im Ersten Weltkrieg (German Edition)
Autoren: Adam Hochschild
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sie, so schrieb sie später, »eine Fahrkarte nach London gelöst, wo ich meinen Lebensunterhalt als Hausmädchen zu verdienen gedachte«. Obwohl man sie schon nach der ersten Nacht wieder aufgriff, war sie »nicht gezähmt«.   12 Ihr Vater starb noch im selben Jahr, und ihre Mutter kam einige Jahre später aus uns unbekannten Gründen in eine psychiatrische Anstalt. Charlotte, ihre Schwestern und ein jüngerer Bruder wuchsen unter der Obhut von Verwandten und einer Gouvernante auf, und Charlotte half bei der Betreuung ihrer jüngeren Geschwister. Obwohl elternlos, waren sie noch immer privilegierte Kinder im größten aller Weltreiche. Die Gouvernante brachte ihnen eine Hymne bei:

    Ich danke Gott und der Gnade, /
    die über meine Geburt gewacht /
    und mich während dieser glücklichen Tage /
    zu einem glücklichen englischen Kinde gemacht.

    Ich ward nicht geboren als kleiner Sklave, /
    mich in der Sonne zu plagen schwer /
    und zu wünschen, dass ich läge im Grabe /
    und all meine Arbeit verrichtet schon wär. [2]
    »Diese Hymne war der Wendepunkt«, wird Charlotte später behaupten. »Ich wollte wissen, warum Gott Sklaven gemacht hatte, und wurde postwendend ins Bett geschickt.«   13
    Als sie ein wenig älter war, besuchte sie eine Fabrik in Yorkshire und war entsetzt beim Anblick der schlecht bezahlten Frauen und Kinder, die Stapel alter Lappen auftrennten und Seile aus den Fäden flochten. Anfang Zwanzig sah sie die riesigen Slums des East End: »Wie tief mich das alles beschämte! Wie glühend verlangte mich danach, zu diesen darbenden Menschen zu sprechen, zu sagen: ›Warum ertragt ihr das? Erhebt euch   … Zerschmettert eure Unterdrücker. Seid wahrhaftig und stark!‹ Natürlich war ich viel zu schüchtern, um dergleichen zu sagen.«   14
    1870, mit 26 Jahren, heiratete Charlotte. Max Despard war ein wohlhabender Geschäftsmann, doch wie seine frisch angetraute Ehefrau befürwortete er die Home Rule für Irland, die Rechte und Berufschancen für Frauen und viele andere progressive Forderungen, wie sie damals laut wurden. Während der ganzen Zeit ihrer Ehe litt Max an einer Nierenerkrankung, an der er schließlich auch starb, und es gibt Hinweise darauf, dass die Ehe nievollzogen wurde. 20 Jahre lang unternahm das Paar ausgedehnte Reisen, mehrfach suchten sie Indien auf, und noch Jahrzehnte danach schwärmte sie von der glücklichen Zeit, die sie verlebt hatten. Ganz gleich, wie enttäuschend die Ehe ohne Kinder und möglicherweise auch ohne Sexualität gewesen sein mag, Charlotte Despard kam in den Genuss eines für ihre Zeit und Gesellschaftsschicht seltenen Vorzugs: eines Ehemanns, der ihre Arbeit   respektierte, und das hieß zunächst, ihre Tätigkeit als Romanautorin. Moderne Leser müssen nicht bedauern, dass Depards sieben dickleibige Romane (damals verdienten Verleger besser an mehrbändigen Werken) schon lange nicht mehr aufgelegt werden. Mit ihrer Fülle an edlen Heldinnen, geheimnisvollen Vorfahren, schauerlichen Schlössern, Versöhnungen am Sterbebett und glücklichen Fügungen sind sie die viktorianische Spielart des modernen Groschenromans.
    Wenn es die Rolle des Landedelmanns war, sein Leben auf dem Pferderücken zu verbringen, bestand die einer Dame der viktorianischen Oberschicht darin, ein großes Haus zu führen, und so erwarben die Despards einen Landsitz. Courtlands lag mitten in sechs Hektar hügeliger Landschaft   – Wälder, Felder, Bäche und französische Gärten mit Blick auf ein Tal in Surrey. Ein Dutzend Dienstboten stand allein im Inneren des Hauses zur Verfügung. Die Herzogin von Albany, die auf einem noch größeren Herrensitz in der Nachbarschaft wohnte, warb Charlotte für ihre Nine Elms Flower Mission an. Dabei brachten begüterte Frauen Körbe voller Blumen aus ihren (ebenfalls von Dienstboten gepflegten) Gärten nach Nine Elms, dem ärmsten Gebiet in dem überbevölkerten Londoner Bezirk Battersea. Das war das Äußerste, was eine Dame der Gesellschaft schicklicherweise gegen die Armut der unteren Stände unternehmen durfte.
    Nach dem Tod ihres Ehemanns im Jahr 1890 stieß Charlotte Despard allerdings alle Welt vor den Kopf, als sie Battersea zu ihrem Lebensmittelpunkt machte. Mit dem Geld, das sie von Max und von ihren Eltern geerbt hatte, eröffnete sie in dem Elendsviertel zwei Gemeindezentren mit der etwas vollmundigen Bezeichnung Despard Clubs. Sie boten Jugendprogramme, eine medizinische Ambulanz, Ernährungskurse, Essensgeld für Wöchnerinnen und
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