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Der Große Krieg: Der Untergang des Alten Europa im Ersten Weltkrieg (German Edition)

Der Große Krieg: Der Untergang des Alten Europa im Ersten Weltkrieg (German Edition)

Titel: Der Große Krieg: Der Untergang des Alten Europa im Ersten Weltkrieg (German Edition)
Autoren: Adam Hochschild
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Babyausstattungen, die von Frauen nach der Geburt eines Kindes ausgeliehen werden konnten. Besonders schockierend für Despards Familie: Sie bezog das obere Stockwerk eines ihrer Clubs, obwohlsie sich noch eine Zeit lang an den Wochenenden nach Courtlands zurückzog. Trotz ihrer Herkunft kam Charlotte Despard offenbar glänzend mit den Kindern von Battersea zurecht. »Sie empfindet sie nicht als schwierig«, berichtete ein Beobachter, der Sozialreformer Charles Booth. »Bereitwillig unterwerfen sie sich ihrer sanften Gewalt. ›Du tust mir weh!‹, schrie ein dicker, kräftiger Bursche, aber er wehrte sich nicht, als sie ihn am Arm nahm, um ihn zur Ordnung zu rufen.«   15
    Es hieß, man könne Battersea schon riechen, lange bevor man es erreiche, denn die Luft war dort schwer vom Rauch und Dampf eines großen Gaswerks, einer Eisengießerei und der kohlebetriebenen Lokomotiven, die den   Stadtteil auf ihrem Weg zur Victoria- und zur Waterloo-Station durchquerten. Der Kohlestaub überzog alles mit einer dicken Schicht, auch die   Lungen der Bewohner. Viele Frauen wuschen die Wäsche für die Bewohner wohlhabenderer Viertel. In den baufälligen Häusern und Wohnungen wimmelte es von Ratten, Kakerlaken, Fliegen und Bettwanzen. Städtische Manufakturgebiete wie Battersea waren Zentren der Industriellen Revolution Großbritanniens. Im kommenden Großen Krieg produzierten sie mit ihren Fabriken Waffen in industriellem Maßstab, und in ihren überfüllten Mietskasernen stand Menschenmaterial in nicht geringerem Maße für die Schützengräben bereit.
    Wie Charlotte Despard rasch entdeckte, war Battersea ein Schlachtfeld anderer Art, ein Zentrum radikaler Politik und der wachsenden Gewerkschaftsbewegung. 1889 hatten seine Gasarbeiter für einen Acht-Stunden-Tag gestreikt. In späteren Jahren lehnte der Stadtrat eine Spende des schottisch-amerikanischen Magnaten Andrew Carnegie für die Stadtteilbibliothek ab, weil sein Geld »mit dem Blut« streikender amerikanischer Stahlarbeiter »befleckt« sei. Der Teil Batterseas, in dem Charlotte Despard arbeitete, spiegelte auch die ethnische Hierarchie des Empire wider, denn wie viele der ärmsten Viertel Englands war er überwiegend von Iren bewohnt   – vertriebenen Pachtbauern oder auch Männern und Frauen, die auf der Suche nach einem besseren Leben in London die ärmeren Stadtteile Dublins verlassen hatten.
    Aus Solidarität mit den verarmten Iren in Battersea und um sich von der Kaste ihrer Geburt, der protestantischen Oberschicht zu befreien, trat sie zum katholischen Glauben über. Daneben verschrieb sie sich der Theosophie, einer verschwommenen, mystischen Glaubensrichtung, die Elemente des Okkultismus, Buddhismus und Hinduismus in sich vereinigte. Doch das war noch nicht alles: »Ich beschloss, die großen Probleme der Gesellschaft persönlich zu studieren. Mein Studium führte mich zum kompromisslosen Sozialismus.«   16 Sie schloss Freundschaft mit Karl Marx’ Tochter Eleanor und besuchte 1896 als Delegierte einer britischen marxistischen Gruppe einen Kongress des Zusammenschlusses verschiedener sozialistischer Parteien und Gewerkschaften aus aller Welt, den man unter der Bezeichnung Zweite Internationale kennt. Mag das auch eine seltsame Mischung von Anliegen und Bestrebungen gewesen sein, eines kristallisierte sich deutlich heraus: das Verlangen, sich mit den Menschen auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie Großbritanniens zu identifizieren und sie mit etwas mehr als Blumenkörben zu versorgen.
    Wie Charlotte Despard das Leben hinter sich ließ, das man von ihr erwartete, so sagte sie sich auch von der dazugehörigen Kleiderordnung los. Sie ging jetzt stets in Schwarz, und gegen Ende ihres Lebens bedeckte sie ihr ergrauendes Haar mit einer schwarzen Spitzenmantille und nicht mit den reichverzierten Hüten bessergestellter Damen, die so deutlich Muße signalisierten. Anstelle von Schuhen trug sie Sandalen, die vorn offen waren. Das war ihre Standardkleidung, ob sie nun am Rednerpult stand oder in einem ihrer Gemeindezentren eine Mahlzeit für eine Gruppe von Slum-Kindern zubereitete. Sogar im Gefängnis trug sie diese Sachen.
    Bald darauf wurde sie in den Poor Law Board gewählt, eine Kommission, die örtliche Arbeitshäuser beaufsichtigte. Als eine der ersten Sozialistinnen in einer dieser Kommissionen protestierte sie heftig gegen die verfaulten Kartoffeln, die den Insassen vorgesetzt wurden, und bemühte sich, einen korrupten Verwalter zu entlarven,
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