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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont
Autoren: Gerhard Roth
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Karikatur des amerikanischen Präsidenten abgebildet war. Die Nase des Präsidenten war in Form eines Entenschnabels gezeichnet. Ihm fiel auf, daß er sich den Präsidenten immer als Karikatur vorgestellt hatte. Die Minister, die Waffenfabrikanten, die Kriegsstrategen waren in seiner Vorstellungswelt stets Comicfiguren gewesen, geldraffende, mordlüsterne Figuren, die sich wie Marionetten bewegten. Jetzt aber, den Passanten mit der Zeitung bereits in seinem Rücken, versetzte ihm die Erkenntnis der Realität der Politiker, Militärs und Industriellen einen Stich. Eine Straßenbahn fuhr an ihm vorbei mit einem buddhistisch gekleideten Jugendlichen auf der Plattform, die Haut bleich, eine Drahtbrille im Gesicht, der Schädel bis auf einen Haarzopf glattrasiert. Während Haid soeben begriffen hatte, daß das, was er in Europa über die amerikanische Politik wie literarische Erzeugnisse gelesen hatte, alltägliche Wirklichkeit war, verwandelten sich im selben Augenblick die buddhistisch gekleideten Jugendlichen in Comicfiguren. Welche Mechanismen wirkten in diesem Land, daß fortlaufend Romantik in die Zivilisation einbrach. Vielleicht war auch die Kriminalität von dem romantischen Protest gegen die Zivilisation und die Gesellschaft mit verursacht. Er sah einen Polizisten an der Ecke stehen, einen schwarzen Knüppel in der Hand, an der dicken Hüfte einen Colt. Wie hätte dieser Polizist reagiert, wenn Haid ihm von seiner Beobachtung am Fenster erzählt hätte? Wäre er mit ihm ins Haus gekommen oder hätte er ihn zur Polizeistation mitgenommen, um ihn mit dem Gesicht zur Wand zu filzen und einem Arzt vorzuführen? Das Gesicht des Polizisten drückte müde Gleichgültigkeit aus. Haid trat an ihn heran und fragte nach dem Postamt. Der Polizist wies mit erhobenem Kopf auf ein Kaufhaus, das in Sichtweite lag. Haid besah sich den Polizisten. Der Anblick löste die gewohnten Zwangsvorstellungen in ihm aus. Vielleicht lag es daran, daß er sich verpflichtet fühlte, mißtrauisch gegen einen Polizisten zu sein. In Wahrheit war ihm der Polizist egal. Haid ging in das Kaufhaus, kaufte Marken und verstaute sie im Paß. Er schwitzte in seinem Staubmantel. Es kam ihm vor, als habe er damit nichts zu tun, daß sein Körper schwitzte. Die Powell Street stieg vor dem Kaufhaus steil an, verlief flach weiter und stieg wieder steil an. Haid öffnete den Staubmantel und ließ den Wind auf seinen Körper blasen. Dann ging er in das Kaufhaus zurück. Er spazierte durch die riesigen Räume und sah zu, wie die Menschen sich drängten. Es war, als stünden sie unter Zwang. Sie betasteten und beglotzten die bunten Fähnchen, Waschmittelpakete, Konservendosen, Perücken und Kosmetikartikel, rafften sie in farbige Papiersäcke und stürzten davon. Das ist das System, dachte Haid, jeden abhängig zu machen und in einigen das Gefühl zu wecken, daß sie an einer Art Macht teilhätten, indem sie die Interessen anonymer Macht-Teilhaber vertraten: Richter, Polizisten, Militärs. Natürlich war Haid sich im klaren, daß dieses Kaufhaus sich in nichts von Kaufhäusern in Wien oder Berlin unterschied und daß sich die Menschen hier nicht anders verhielten, aber er hatte den Eindruck, als strahlten die Waren eine stärkere Aura von Prestige aus, als würde die Habgier systematischer bis zu einer Form kleptomanischer Besitzgier gesteigert. Man schien es auf dieses kleptomanische Stadium der Habgier anzulegen und ließ die Gegenstände gleichzeitig durch ein komplizierteres Netz moralischer Instruktionen und Vollzugsbeamten bewachen. Es ist der sanfteste Betrug, den es gibt, dachte Haid. Horkheimer glaubte, daß die Menschen eines Tages im Zustand totaler Zufriedenheit leben würden, ohne Geist, aber glücklich. Das Unbehagen an der Realität würde einfach deshalb verschwunden sein, weil die Menschen sich an die für ihr sicheres Leben notwendigen technischen Bedingungen gewöhnt haben würden. Das richtige Reagieren auf die technischen Bedingungen würde zur Selbstverständlichkeit geworden sein. Haid sah den Menschen zu und hatte das Gefühl, etwas von der Zukunft zu sehen. Der Geist war eine Übergangserscheinung. Er gehörte zur Kindheitsepoche der Menschheit. Man konnte allenfalls hoffen, daß die künftige Menschheit etwas von Religion und Philosophie bewahrte – so wie der erwachsene Mensch ein Stück seiner Kindheit. Er sah in Gedanken Horkheimer vor sich, mit glatzköpfigem Eierschädel, die dicke Hornbrille im Gesicht, leicht gebückt, eine
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