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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont
Autoren: Gerhard Roth
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und schmierte sich die Hämorrhoiden ein. Währenddessen fiel sein Blick in das Fenster des gegenüberliegenden Hauses. Für den Bruchteil eines Augenblicks sah er mit großer Deutlichkeit einen Mann im weißen Hemd, der sich über eine zusammenbrechende Frau stürzte. Im nächsten Moment war das Fenster leer. Haid stand wie erstarrt da und ließ das Fenster nicht aus dem Auge. Nichts rührte sich. Er wagte zunächst nicht näher zu treten, stand nur da und wartete. Als sich nichts ereignete, schloß er hastig die Vorhänge und überlegte mit brennendem Kopf, was er tun sollte. Hatte ihn seine Phantasie getäuscht? Handelte es sich um einen Kriminalfall oder war er Zeuge eines stürmischen Liebesaktes geworden? Und wie hatte er sich zu verhalten? Sollte er zur Polizei gehen? Oder dem Portier davon erzählen? – Er konnte sich natürlich lächerlich machen, denn was würde mit ihm geschehen, wenn er sich alles nur eingebildet hatte. Andererseits gab es keinen Zweifel. Er hatte einen Mann in einem weißen Hemd gesehen, der sich auf eine Frau gestürzt hatte. Er zog den Vorhang einen Spalt breit zur Seite, aber das Fenster war noch immer leer. Er empfand jetzt ein großes Bedürfnis nach einem Schluck Alkohol. Vorsichtig schloß er den Vorhang und stand eine Weile untätig auf derselben Stelle. Dann kleidete er sich hastig an, ließ die Salbe auf dem Tisch liegen, wo er sie im ersten Schrecken hingelegt hatte, zählte das Bargeld nach, das er bei sich trug und fuhr mit dem Lift in das Foyer. Er wußte noch immer nicht, was er tun würde. Die Menschen im Lift erschienen ihm gesichtslos. Nichts fiel ihm auf, keine Augen, keine Haare, kein Mund, sie warteten mit ihren unbeteiligten Gesichtskonserven, bis der Lift anhalten und sie von der ungewollten Gegenwart der anderen befreien würde. Haid war nichts so unangenehm wie das Fahren mit fremden Menschen in einer schmalen Liftkabine, schweigend oder sich räuspernd, manchmal ein blödes Lächeln auf den Lippen. Aber auch das Liftfahren mit Menschen, die er kannte, war ihm zuwider. Es war, als ob man die Verpflichtung hätte, ein Gespräch zu beginnen. Jetzt aber fühlte er von all dem nichts. Er war voller Ungeduld und Angst. Er dachte an das Fenster, das im sechsten Stock lag. Er war halb entschlossen, das Haus zu betreten und auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Vor allem wurde ihm klar, daß er über sich selbst Gewißheit haben mußte. Er mußte wissen, ob alles nur Einbildung war oder ob er etwas Wirkliches wahrgenommen hatte. Noch nie hatte er sich so verzweifelt an die Wirklichkeit geklammert wie jetzt. Dieses ganze Ereignis mußte einfach außerhalb seines Kopfes stattgefunden haben. Er bog, nachdem er aus dem Hotel getreten war, nach rechts ab und stand vor dem Haus. Sollte er zum Fenster hinaufblicken? Noch während er sich fragte, hob er den Kopf und zählte die Stockwerke. Von der Straße aus war nichts Besonderes zu sehen. Haid spähte nach dem Eingang und stellte fest, daß sich die Tür neben einem Geschäft befand, das leergeräumt war und dessen Scherengitter geschlossen waren. Vorsichtig betrat er das Haus. Es war vollständig ruhig. Der Flur war mit grüner Ölfarbe gestrichen, auch das Eisengeländer an der Wand war grün. Dann sah Haid den Lift. Er scheute sich jedoch, ihn zu benutzen, ohne zu wissen warum. Unentschlossen stieg er die Stufen höher. So war er in den ersten Tagen nach Hause gekommen, nachdem er erfahren hatte, daß seine Frau ihn betrogen hatte. Jeder Schritt voller Angst, das Türöffnen voller Angst, die ersten Worte voller Angst. Damals hatte er sich gewünscht, alles möge nur ein Traum sein. Und auch jetzt kam es ihm so vor, als habe er alles nur im Traum erlebt, als habe er Daniel Haid zugeschaut, wie er langsam und kränklich die Stiegen hochgestiegen war. Er fühlte seine schwitzenden Hände, sein pochendes Herz so quälend, daß er seine Erinnerung als etwas Sentimentales abtat. Die Wirklichkeit findet nur immer im jeweiligen Augenblick statt, dachte er. Nur der jeweilige Augenblick, der kleinste Bruchteil Gegenwart ist Wirklichkeit, alles andere gleicht Erfindung, Traum, Einbildung. Was war das, was er bisher erlebt hatte? Es war etwas ganz und gar Unreales, eine ungeordnete, verwirrende Summe von Bildern, die ihm als blasse, durchsichtige Fragmente durchs Gehirn liefen und von welchem er sich nur selbst einredete, sie seien etwas, was zu seinem Ich gehörte. Er blieb stehen, las die Namen auf den Türschildern und sah
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