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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont
Autoren: Gerhard Roth
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rücksichtslos angriff, fiel ihm häufig nichts ein: Er wiederholte immer wieder einige Sätze, verbohrte sich in sie und selbst wenn der andere nicht mehr darüber sprach, konnte er eigensinnig das Thema mit denselben Sätzen aufrollen, obwohl er wußte, daß er sich dadurch nur noch lächerlicher machte. Oder wenn er der Mittelpunkt von Späßen gewesen war und er alle, die am selben Tisch saßen, haßte, hielt ihn etwas davor zurück, aufzustehen und zu gehen. Sein Gehirn ließ ihn völlig im Stich. Es fiel ihm nichts mehr ein, keine Bemerkung. Er saß da mit starrem Lächeln, bis ihn die Wangen schmerzten, und tat so, als gefalle es ihm, der Mittelpunkt von Späßen zu sein. Oder wenn man eine falsche Behauptung oder eine Lüge von ihm aufgedeckt hatte, war es ihm ebenso ergangen, es war eine Art Lähmung, die ihn befiel, eine Antriebslosigkeit, durch die er sich erniedrigt vorkam und die ihn deprimierte. Hier vor dem Gestürzten stand er nicht nur aus Neugierde, sondern auch wegen dieser Scham, die ihn schlaff machte. Endlich riß er sich los und spazierte die Straße hinauf. Er war so verwirrt, daß er nicht sofort den Weg zurück ins Hotel fand.
     
     
7
     
     
    Als Haid am hellen Vormittag erwachte und ihm langsam das Erlebte einfiel, stellte er fest, daß er sich im Nachhinein wie einen Fremden betrachtete. Er dachte über sich nach wie über einen Schauspieler, den er in einer Rolle gesehen hatte und den er kurz zufällig in einem Kaffeehaus kennenlernte. Natürlich unterschied sich das Verhalten des Schauspielers von seinem Verhalten auf der Bühne. Haid konnte sich das Verhalten der Theaterfigur, die der Schauspieler dargestellt hatte, erklären, ohne daß er eine Verbindung zwischen dem Schauspieler und der Theaterfigur herstellte. Wenn er allein war, war er der nüchterne Betrachter des ängstlichen, kleinen, großartigen Daniel Haid, dessen Gesten, Sätze und Motive er auswendig kannte und von dem er nicht loskam. Er öffnete den Vorhang zum Fenster an der Kopfseite des Bettes. Vor dem Fenster befand sich eine häßliche rostigbraune Ziegelwand mit Reklamesprüchen. Sie warben für ein Hotel und für 7UP. Auf einem Geschäft am Gehsteig konnte er weiß auf schwarz das Schild: WATCHMAKER lesen, daneben LIQUORS-CIGARS-MAGAZINES in großen orangenen Buchstaben, die traurig in den Vormittag blinkten. Unter seinem Fenster entdeckte er ein Restaurant mit Namen HOFBRAU. Einige gelbe Zeitungskisten waren auf der Straße aufgestellt, dazwischen stand ein weißer Hydrant. Die Straße war mäßig befahren, so daß sein Blick auf ein paar Tauben fiel, die auf einem Dach neben der nackten Ziegelwand saßen.
    Haid fand den Anblick poetisch. Er konnte sich vorstellen, daß er durch ein Fenster Zeuge eines Kriminalfalles würde, daß eine Pistole unter seinem Kopfkissen lag, daß er sich vorsehen mußte, wenn es an der Tür zum Hotelzimmer klopfte, daß er mit einem Hut auf dem Kopf als Philipp Marlowe auf der Straße ging, daß er über eine Feuerleiter in eine Wohnung einstieg, daß er auf die Leiche eines Juweliers im schwarzen Anzug mit goldener Uhrkette stieß, und daß er den Anblick des glatzköpfigen Toten, der unweigerlich Hitchcock ähnelte, poetisch fand. Er nahm den Veranstaltungskalender vom Stuhl und legte sich wieder auf das Bett. Er studierte den Plan, der sich auf der Rückseite des Kalenders befand, riß ihn sodann vom Kalender ab und steckte ihn in die Sakkotasche. Dabei fühlte er das Efeublättchen, das er bei seinem Spaziergang eingesteckt hatte. Er nahm es heraus und legte es auf den Tisch. Es war dunkelgrün und so schlaff, daß es richtig tot aussah. Der Lackglanz war verschwunden und die Oberfläche war stumpf. Als er das Blatt betrachtete, fiel ihm ein Paläontologe ein, der einem Doktoranden einen Sonnenfisch vorgelegt hatte, mit der Aufforderung, ihn zu beschreiben. Der Doktorand beschrieb den Fisch, wie er es gelernt hatte, Haid hatte sich den Namen gemerkt, Ichthys Heliodoplodokus, wurde aber immer wieder abgewiesen, mit dem Hinweis, den Fisch weiter anzusehen. Drei Wochen später war der Fisch im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung, aber der Doktorand wußte nun vom Fisch mehr als jemals zuvor. Haid dachte sogleich, das Blatt in den Koffer zu legen, damit es nicht von einem Zimmermädchen fortgeworfen würde, und Tag für Tag die Veränderung zu beobachten. Er kramte eine Tube Scheriproct-Salbe aus dem Koffer, strich eine kleine Menge des blaßblauen Gelees auf den Mittelfinger
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