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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont
Autoren: Gerhard Roth
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REISEN
1
     
     
    Daniel Haid, ein Mann mit poetischen und hypochondrischen Gefühlen, war 38 Jahre alt und Besitzer einer Buchhandlung in Wien. Er saß am Vorabend seiner Abreise nach Amerika am Schreibtisch und blätterte in den Notizen, die er sich im Laufe der Zeit gemacht hatte: Über den botanischen Bau von Pflanzen, Anmerkungen zur Lektüre von NIELS LYHNE und zur Prosa der deutschen Romantiker, über den Sprung einer Katze aus einem Fenster und seine Gedanken über biologische Ernährung. Es hatte eine Zeit gegeben, da er sich mit biologischer Ernährung beschäftigt hatte, vor allem durch seine Frau angeregt, von der er seit kurzem geschieden war. Seine Beziehung zu Frauen war zwiespältig: Er interessierte sich für sie, aber sobald er länger mit ihnen zusammen war, empfand er sie als Belastung. Es war ihm nie besonders schwergefallen, Frauen kennenzulernen; seine Schwierigkeiten bestanden vielmehr darin, für ein plötzlich auftretendes Gefühl des Überdrusses eine Lüge zu finden, die das Verhältnis beendete. Hatte er sich endlich getrennt, fühlte er sich für kurze Zeit frei und glücklich, bis ihm eine romantische Sehnsucht und seine sexuellen Bedürfnisse in ein neues Verhältnis trieben. Haid trank auch, zwar nicht regelmäßig, jedoch so unbeherrscht, daß er, obwohl er viel vertrug, am Tag darauf krank und verwirrt war.
    Als Haid sich erhob, um seine Notizen in das Schrankfach zu räumen, fühlte er einen heftigen Schwindel. Gleich darauf erinnerte ihn nur noch der Schweiß auf der Stirne an seine Schwäche. Es war Mitte März, und Haid fragte sich, ob sein Schwindelanfall etwas mit dem Wetter zu tun hatte, mit den klimatischen Veränderungen, die mit dem Jahreszeitwechsel auftreten, oder vielleicht stand der Anfall mit dem Trinken im Zusammenhang (denn er hatte sich am Tag zuvor betrunken) – dann aber dachte er sich, daß die Jugend ihn verließ. Der Gedanke überraschte ihn so sehr, als hätte ein Fremder zu ihm gesprochen.
    Er hauchte die Brillengläser an und begann, sie mit einem Taschentuch zu reinigen. Sein Blick fiel auf den gepackten Koffer und lenkte seine Gedanken auf seine Freunde in Amerika: Mehring unterrichtete in San Franzisco Literatur, Kapra war Architekt in Santa Monica und Christine, eine Jugendfreundin, war mit einem Bankbeamten in New York verheiratet.
    Haid setzte die Brille wieder auf, wickelte die silberne Biedermeierzuckerzange, die er für Christine gekauft hatte, sorgfältig in Seidenpapier und steckte sie zwischen die Hemden in den Koffer.
 
     
2
     
     
    Der Märzmorgen war feucht und nebelig. Haid hatte außer dem Geld für die Reise noch einen größeren Betrag bei sich, da er die Absicht hatte, in Las Vegas zu spielen. Auf dem Flug nach Zürich sah er die schneebedeckten Gipfel der Alpen wie Eisberge aus den Wolken ragen. Zufällig hatte er in einer Zeitschrift einen wissenschaftlichen Artikel gelesen, der sich mit dem Phänomen befaßte, daß Eisberge explodierten. Die Ursache wurde in eingeschlossenen Luftblasen vermutet, die beim Schmelzen des Eises zu brodeln begannen wie Kohlensäure. Haid dachte daran, als er die Berge aus den Wolken ragen sah. Der Gedanke bereitete ihm jedoch keine Freude, da er sich jetzt, sobald er etwas Neues wahrnahm, nicht an etwas Altes erinnern wollte.
    Als Haid in Zürich landete, hatte er das Flugzeug nach New York versäumt. Man hatte ihn für einen späteren Flug umgebucht und fertigte ihm einen Gutschein aus. Beim Essen fiel ihm ein, daß er zehn Jahre zuvor in einem Eissalon in Wien Gabriel Marcel über einen Eisbecher gebeugt gesehen hatte, den riesigen Schädel rot angelaufen, eine Tellermütze auf dem Kopf, schweiß verklebte Haarlocken in der Stirn, den Bart und das Kinn mit flüssigem Eis bekränzt. Er war stehengeblieben und hatte Marcel von weitem beobachtet, bis er geendet und seine Finger mit einem Taschentuch gereinigt hatte. Dann hatte er ihn mit seinem zerknitterten Staubmantel an sich vorbeigehen lassen, klein, dick, mit wichtigtuerischen Schritten.
    Als das Flugzeug in Zürich startete, war es Abend. Die Wolken hatten eine eisblaue Farbe angenommen, und am Himmel leuchteten gelbe Lichtstreifen, die sich gegen den Rand orange und violett verfärbten.
    Haid fühlte sich friedlich und döste vor sich hin. Zwischendurch hatte er einen Traum, aus dem er mehrmals erwachte, der sich jedoch stets, als er wieder eingedöst war, an der unterbrochenen Stelle fortsetzte. Schließlich blieb er wach und schüttelte die
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