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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont
Autoren: Gerhard Roth
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plötzlich die Sonne durch ein Gangfenster auf den Boden fallen. Das Sonnenlicht ernüchterte ihn ein wenig, und er schritt rasch die Stufen bis zum sechsten Stock hinauf. Er suchte von den vier Türen jene aus, von der er glaubte, daß sie zur Wohnung mit dem Fenster führte, an dem er den Vorfall beobachtet hatte. Auf dem Türschild aus goldgefärbtem Glas stand: Charles P. Cromb. Daneben war mit einem Reißnagel eine Visitenkarte befestigt, auf der er lesen konnte, daß man, falls man die Absicht habe, Mr. James Sloughter zu sprechen, dreimal läuten möge. Haid blieb mit angehaltenem Atem stehen und lauschte. Nichts war zu hören. Der Lift stand noch immer im Parterre. Keine Türe wurde geöffnet. Niemand kam die Treppe herauf. Gerade als Haid sich umdrehen und gehen wollte, hörte er hinter der Tür Schritte. Wie auf einen elektrischen Stromstoß hin betätigte er die Klingel. Das Läuten der Glocke erschreckte ihn, als habe er es nicht erwartet. Die Tür wurde wortlos ein kleines Stück aufgerissen, soweit es die Sperrkette zuließ, und das spitze, verschwitzte Gesicht einer Frau rammte sich ihm fast in die Nase. Haid trat sofort zurück. Er hatte nicht bemerkt, daß er so nahe an der Tür gestanden war. Er begann deutsch zu sprechen, er wußte nicht, was er sprach, das Blut in seinen Ohren rauschte. Er fühlte, wie schwer sein Körper war, wie schwer es war, eine kleine Geste zu machen. Der Kopf der Frau verschwand und statt dessen blickte ihn ein neugieriger junger Mann an. Haid sah sofort, daß er ein weißes Hemd trug. Der Mann blieb hinter der Sperrkette und machte ein eher besorgtes als aggressives Gesicht. In einer Hand hielt er eine Bierflasche. Zu seiner Überraschung gewann Haid die Fassung wieder, stammelte etwas auf deutsch und lief dann, nachdem er gegrüßt hatte, schamerfüllt die Treppe hinunter.
 
 
8
     
     
    Zunächst konnte Haid keinen Gedanken fassen. Er ging wie eine Maschine durch die Polk-Street, überquerte die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten und betrat eine Bar. Auf einer Streichholzschachtel an der Theke las er den Namen GOLDEN DUST LOUNGE. Er trank einen Whisky und fühlte, wie er sich in der spärlich besuchten Bar bei gedämpftem Licht langsam wiederfand. Nein, es war kein Anflug von Wahnsinn gewesen, der ihm den Vorfall am Fenster vorgegaukelt hatte, alles war real gewesen. Der Mann im weißen Hemd und die Frau im Schlafrock waren Menschen, keine Erfindungen. Er war Zeuge eines leidenschaftlichen Liebesaktes gewesen, sonst nichts. Haid bemühte sich, die Gedanken abzuschütteln und vertiefte sich in das goldbraune Muster der Seidentapeten. Er sah seine Füße den Barhocker hinunterwachsen und wie fremde Klumpen auf dem Messingrohr unter der langen dunkelbraunen Theke ruhen. Seine Schwäche war, daß er sich zu schnell hinreißen ließ. Als er den Mann und die Frau hatte niederstürzen sehen, hatte er seine Gedanken nicht mehr in der Gewalt gehabt. Er war kein überlegter Mensch. Bevor es noch dazu kam, Wahrscheinlichkeiten zu prüfen, war er ein Opfer seines Hingerissenseins. So schlitterte er oft in Bekanntschaften, in lästige Verpflichtungen, in vertrauensselige Gespräche. Er zündete sich eine Zigarette an und sah sich in einem der goldgerahmten Spiegel. Über seinem Kopf hing ein Luster aus weißen Glaskugeln wie eine spielerische Drohung. Er sah eine Vase mit tiefgrünen Nelken und ihm fiel ein, daß er am Tag zuvor Stände mit bunten Blumen gesehen hatte, die in Blechkübeln stufenförmig von den durch Leinendächer geschützten Pulten bis zum Trottoir hinunter aufgestellt waren, blühende Wasserfälle aus Blütenblättern, mitten im Getümmel von Menschen, Cadillacs, Oldsmobiles, Fords, gelben Taxis und Straßenbahnen. Häufig waren die Blumen in Zellophanpapier eingewickelt, und von den Leinendächern hingen an gefärbten Schnüren Sträuße leuchtender Trockenblumen. Haid blickte auf die Uhr. Er bezahlte und fühlte, als er sich vom Hocker erhob, daß er angetrunken war. Er hatte noch nichts gefrühstückt, aber die beiden Whiskys auf nüchternen Magen hatten ihm gutgetan.
    Als er auf die Straße trat, begegneten ihm zwei Männer mit grünen Nelken im Knopfloch. Haid lachte über den Zufall. Wie immer, wenn er getrunken hatte, verwandelte sich die Wirklichkeit in eine Art Farbfilm. Er schwebte träge dahin und bemerkte, daß seine Gesichtshaut empfindungslos war. Ein Passant stand an der Straßenkreuzung und las eine Zeitung, auf deren Titelseite eine
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