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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont
Autoren: Gerhard Roth
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duschte sich, entnahm dem Koffer ein frisches Hemd und fand dabei die silberne Zuckerzange, die er für Christine gekauft hatte. Er beschloß, sie ihr mit der Post zu schicken. Er hatte keine Angst, ihr zu begegnen, aber er fühlte, daß es besser war, wenn er es nicht mehr versuchte. Er machte ein kleines Päckchen und wunderte sich währenddessen, daß er sich frei und unbeschwert fühlte. Er konnte nicht glauben, daß die Abreise O’Maleys die Ursache dafür war. Er begegnete diesem Gedanken allerdings mit Vorsicht, da er nicht neu für ihn war, aber er wollte sich auch nicht dagegen wehren. Andererseits wiederum befürchtete er einen Gefühlsüberschwang, der stets eine gleich starke Niedergeschlagenheit zur Folge hatte. O’Maley war abgereist, dachte Haid. Das bedeutete noch gar nichts. Gewißheit erlangen konnte er nur, indem er mit Mehring sprach. Der Autolärm von der Straße machte ihm die Stille seines Zimmers bewußt. Er kramte sein Notizbuch heraus und ließ sich von der Hotelvermittlung mit San Francisco verbinden. Niemand hob ab. Er hörte den Freiton und das Rauschen in der Leitung. Gegen Mittag trug er das Päckchen zur Post. Er roch das Parfum auf dem Hotelgang, entdeckte einen gläsernen Postschacht, der entlang dem Lift vom letzten Stockwerk bis zum Parterre in einen großen, verzierten Behälter aus Messing führte, und stellte fest, daß die rothaarige Alte mit dem Spazierstock wieder dort saß, wo sie jeden Tag saß, ohne daß er ihr Beachtung geschenkt hatte.
     
     
59
     
     
    Ein Negerkellner servierte ihm in einem Restaurant, das sich um die Ecke in der Gay-Street befand, kleine Tintenfische, und Haid empfand so etwas wie ein Gefühl der Freude, als er das freundliche Gesicht mit dem riesigen, dichten Schnurrbart, der dem Neger über die Wange bis zum Haaransatz am Ohr wuchs, anschaute. Haid wollte klar denken, konnte es aber nicht. Er brachte nicht den Willen auf, darüber nachzudenken, welche Bedeutung die Abreise O’Maleys haben konnte. Es war einfach schön, dem Neger zuzulächeln, und vom Antwortlächeln zu wissen, daß es ihn selbst betraf. Natürlich wußte Haid die ganze Zeit über, daß er darüber nachdenken sollte, aber sein Gehirn gehorchte ihm nicht. Es brachte den Ansatz eines Gedankens zuwege und beschäftigte sich sodann zerstreut mit dem, was er sah. Hatte er seine Angst verdrängt und gegen einen Zustand des Schlafwandelns eingetauscht? Sein Kopf schmerzte nicht, aber es war nicht hell in ihm. Es war, als seien in einem Raum an einem strahlendhellen Tag die Rolläden geschlossen. Sein Körper war ruhig, doch eine dumpfe, ungerichtete Unruhe saß in seinem Kopf und reizte ihn. Er bemühte sich, sich abzulenken, und sah nun durch die Scheiben des Restaurants, wie ein Polizist einen jungen Mann nach Waffen abtastete und ihn sodann in einen bereitstehenden Polizeiwagen stieß. Eine Menge von Fußgängern stand lose herum und wartete geduldig, bis der Wagen abgefahren war. Haid fiel auf, daß er die Straßenszene nicht auf sich bezog, wie er sie auf sich bezogen hätte, wenn O’Maley neben ihm gesessen wäre. Seltsamerweise, dachte er befriedigt, daß der junge Mann sich nun nicht mehr zu verstecken brauchte.
     
     
60
     
     
    Auf dem Weg zurück in das Hotel fiel Haid in einer schmalen Straße eine Auslage mit beschädigten Schneiderpuppen auf, die wahllos aufeinandergeschichtet waren. Sie waren in gelbe, braune und graue Tücher eingewickelt, als handelte es sich um kostbare Mumien ägyptischer Pharaonen. Im Hotelzimmer schlief Haid später bis zum Abend. Beim Erwachen fiel ihm der Treffpunkt mit dem Neger ein. Er wartete zwei Stunden im Hotelzimmer, da er dem Hageren auch nicht in der Vorhalle begegnen wollte. Einige Male beunruhigten ihn Geräusche vor der Zimmertür, aber nichts geschah. Er ließ sich wieder mit San Francisco verbinden. Kurz darauf läutete das Telefon, und er hörte die leise Stimme Mehrings.
     
61
     
     
    »Wo bist du, Daniel?«, fragte Mehring. Die Worte klangen traurig und waren voll Einsamkeit.
    Haid erklärte es. Dabei dachte er daran, daß er sich immer vorgestellt hatte, wie sehr er zittern würde, wenn er mit Mehring sprechen würde. Nichts dergleichen war in ihm: Nicht Verzweiflung, nicht Angst und nicht Neugier. Haid zitterte auch nicht, als er nach Carson fragte.
    »Carson ist tot«, antwortete Mehring.
    Haid wußte, daß er sich jetzt verstellen sollte, daß er den Überraschten spielen mußte, aber er schwieg.
    »Hallo, bist du noch
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