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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont
Autoren: Gerhard Roth
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nicht mehr sprach und nichts mehr hörte und die Augen schloß und seine Sinne erst dann wieder öffnete, wenn in einem nichts mehr als Erinnerungen waren, auf die man blicken konnte, wie auf panoptische Bilder. Man würde sie mit Interesse betrachten, ohne zu urteilen. Man würde sich nur für die eigene Wahrheit, die in diesen Bildern lag, interessieren. Das Taxi hielt an der Grand Central Station. O’Maley bezahlte, und ohne sich abzusprechen gingen sie automatisch in der Madison Avenue weiter.
    »Was halten Sie von dem Friedhof?«, fragte O’Maley.
    »Ich habe mich an etwas erinnert.«
    »So? Und woran?«
    Schon als Haid das Wort »erinnert« ausgesprochen hatte, hatte er gewußt, daß O’Maley ihn fragen würde, woran er sich erinnert habe. Falls er ihm den Friedhof nur gezeigt hatte, um ihn an Carson zu erinnern, war diese Frage naheliegend.
    »An ein Bild«, antwortete Haid ruhig. »An das Bild eines deutschen Malers.«
    O’Maley nickte.
    Haid steckte die Hände in seinen Staubmantel. Lag das Geheimnis der anderen Realität, die ihn jetzt so sehr beschäftigte, und die Friedrich sogar gemalt hatte (worüber er immer wieder staunen konnte), lag dieses Geheimnis vielleicht darin, daß die Dinge, die Friedrich sah und malte, wie er sie sah, immer auch etwas anderes bedeuten? Das Grün des Rockes eines der beiden Männer, die auf dem Bild KREIDEFELSEN AUF RÜGEN dargestellt sind, ist gleichzeitig die Farbe der Hoffnung und die Farbe Grün. Die zwei Segelboote auf demselben Bild sind gleichzeitig Sinnbilder von Seelen, die zum ewigen Leben aufgebrochen sind und zwei Segelboote. Haid aber wußte nicht, was die Dinge, die er selbst sah, für ihn bedeuteten. Er war in sie verstrickt. Er wußte nicht einmal, was O’Maley für ihn bedeutete. Er wußte es nicht, weil er nicht den Mut hatte, die Frage zu stellen. Eine Zeitlang trug er die Erinnerung an Caspar David Friedrichs Bild wie ein leuchtendes Amulett in seinem Kopf herum. Es legte sich über die Waren in den Schaufenstern der Geschäfte, wie ein Bild in einem Film oft ein anderes überdeckt und unter sich verschwinden läßt, wenn eine Szene oder ein Schauplatz wechseln.
    »Sie dachten an das Bild eines alten deutschen Meisters?«, fragte O’Maley nach einer langen Pause. Haid nickte und wollte umständlich über Caspar David Friedrich zu sprechen beginnen, als O’Maley ihn fragte, ob er es nicht vorziehe, fotografierte Wirklichkeit zu betrachten, gewissermaßen Beweise der Realität, Indizien, die ohne kunstvoll aufgenommen worden zu sein, trotzdem Atmosphäre und Analyse in einem sein könnten. Haid war erstaunt.
    »Ich möchte Ihnen etwas Bemerkenswertes zeigen, Haid«, fuhr O’Maley fort.
    »Sie haben mir erst vor kurzem einen bemerkenswerten Friedhof gezeigt«, unterbrach ihn Haid gereizt.
    O’Maley jedoch schien über eine unerschütterliche Höflichkeit zu verfügen. »Ich will Ihnen keineswegs lästig fallen«, sagte er, »aber ich dachte, Sie würden sich dafür interessieren.«
    »Wofür?«
    »Für einen Museumsbesuch.«
    Erinnerungen wurden in Haid wach, die sich nun vor seinem inneren Auge als ein stummer, farbiger Film abspulte. Die riesigen Räume des Naturhistorischen Museums, sein Großvater mit der von Speiseresten bekleckerten Krawatte, der ihn an der Hand hielt, ihn von einem Glaskasten zum anderen führte und ihm ohne seine Brille aufzusetzen, die Augen zusammenkneifend die Namen von den Karteikarten vorlas und mit unsicherem Finger auf die betreffenden Gesteine zeigte: Violette Amethyste aus der Tschechoslowakei, roten, kugeligen Manganspat aus Deutschland, der aussah wie eine köstliche süße Igelfrucht, die aufgesägte Knolle eines grünen Malachit, eine steinerne Blume, wie es ihm schien, oder grünes, zu Stein erstarrtes Wasser, dessen Oberfläche gerade von einem Tropfen in Bewegung gesetzt worden war, und von dem sein Großvater ihm vorlas, er sei in Rußland gefunden worden, würfelige, klare Steinsalzkristalle aus Tirol, blauen Opal aus Südaustralien, durch den sich weiße Fasern zogen wie wandernde Wolkenbänke auf einem blauen Himmel, bläuliche, aufgeschnittene Knollen Chalcedon aus Uruguay mit brauner Rinde, innen rot und weiß gebändert, die ihn anzustarren schienen, als seien sie geheimnisvolle Augen, langstenglige, gründurchschimmerte Smaragdkristalle aus dem Ural, Turmalin aus Madagaskar, glänzenden, zinnoberroten Proustit aus Chile, korallenförmige, grüne, warzige Chrysokollkristalle aus den Liparischen Inseln,
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