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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition)
Autoren: Peter Handke
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und so ließ es sich auch in der Weglosigkeit gut gehen. Erstaunlich wiederum, daß man sich da nach dem großen Gewitterregen fast im Trockenen, zumindest schlammlos Sandigen bewegte; die vom Grasland zuvor nassen Füße waren bald trocken.
    Weglosigkeit und Obdachlose. Die hatten tief im Buschwerk und hinter den Bruchstämmen ihre Zelte, und seit seinem letzten Walddurchqueren schienen sie sich vervielfacht zu haben. Er machte jeweils einen Bogen um sie, bis er merkte, daß sie sämtlich verlassen waren. Nun störte er nicht mehr, noch dazu einer im Wald mit Anzug und Krawatte,die Kreise, wenn es denn welche waren, der auf Nimmerwiederkehr aus der Menschenwelt, der bewohnten, der »Ökumene«, unbekannt Verzogenen, aushäusig Gewordenen und endgültig Abgehausten. Und so bog er dann von Fall zu Fall ab zu einem der Zelte, oder was von denen übrig war.
    Ob diese Ehemaligen für den Sommer weitergezogen waren? Zurück an seine Zeltstelle hier würde jedenfalls keiner von denen mehr finden. Längst vergangen und für immer aus und vorüber war eine jede der Stellen mitsamt den Überbleibseln, dem angekohlten Fauteuil, dem Zeitungsfetzen aus dem Vorjahr und der Vorzeit, dem leeren Rasierspiegelrahmen. Und wieder erstaunlich, wie fast regelmäßig zwischen Sand und Asche Austernschalen steckten, zusammen mit Weinbergschneckenhäusern, Etiketten gar nicht billiger Käsesorten, und wie die zerschlagenen Weinflaschen nicht selten Herkunfts- und Jahrgangsbezeichnungen aufwiesen, und auch die Schnäpse nicht immer der übliche Fusel gewesen waren. Tief in einem nassen Aschenhaufen fand er sogar eine an den Rändern leicht abgestoßene, sonst aber heile Porzellanschale mit dem Blau von Sèvres, und er nahm sie wie selbstverständlich an sich, als sein Eigentum.
    An einer dieser Stellen hielt er sich lange auf. Ein Junger hatte da im Unterholz sein Schlupfloch gehabt, ein Heranwachsender. Das war zu sehen an den Resten eines Werkhefts, welches, nach den darin behandelten Gegenständen, einem Lehrling, Zimmermannslehrling, gehörte; gehört hatte. Der Name war längst getilgt, aber von der Beschreibung der Holzsorten, und wozu die beim Bauen gut sein sollten, zeigte sich noch einiges erhalten. Auch das Geburtsdatum hinter oder unter dem Namen war ungelöscht: der Bursche, wenn es ihn noch gab, war jetzt sechzehn Jahre alt, das Alter, fiel dem Mann auf, während er bei dem verlassenen Unterschlupf hockte, seines eigenen Sohnes, dem er seit dessen Kindheit nicht mehr begegnet war.
    Die Schrift des Jungen erschien harmonisch und nachdrücklich: Der hatte, was es in seinem Fach zu lernen gab, offenbar gerngehabt. Auch die erhaltenen Werkzeichnungen zeigten eine stille Begeisterung, und an eigens betonten und modellierten Holzfaserungen, -verfugungen, insbesondere an den tragenden Stellen, geradezu die Zärtlichkeit einer Griffelkunst, fern von allem Schematischen.
    Auffällig, daß der Jugendliche sich in ein Waldstück verkrochen oder geflüchtet hatte, wo einzigBäume standen, die ihm, laut Werkheft, ans Herz gewachsen schienen. Keine Spur da weit und breit von den Buchen, Eschen, Birken, an denen ihm wenig gelegen war, abgesehen davon, daß derlei Holz für sein Handwerk kaum in Frage kam. Statt dessen ausschließlich Eichen, und dazwischen Haseln, zwar nur als Sträucher, aber jeder Strauch eine ganze Rundpalisade von gleichmäßig geraden, dicht auf dicht aufwärts und zugleich korbartig auseinanderstrebenden Stöcken, und ein jeder, wenn man die Stöcke im Buschzentrum heraussägte, eine natürliche Laubhütte. Gemieden hatte er die anderen Baumarten, weil diese weder Verborgenheit noch Schutz boten. Die Buchen und ihre Stämme standen immer nackt und überdeutlich da, ohne Gebüsche um sie herum, denn in ihrem Bodenbereich ließen die abgefallenen Bucheckernschalen, als zumindest sohlenhohe, stachligharte, wie luftundurchlässige Schicht, kaum eine Vegetation zu; und auch die Birken und Eschen standen regelmäßig für sich, ohne ein Dickicht zu Füßen, umgeben höchstens von den Farnen, oft schön dichten und hohen, die episodisch ein Lager abgaben, doch auf die Dauer, selbst eine kurze, kein Dach.
    Der Junge war nie mehr heimgekehrt. Er war verlorengegangen, war schon ein Verlorener gewesenin dem Augenblick, als er sich, mit seiner Lehrlingstasche, von der nichts mehr übrig war als das durchweichte Werkheftbruchstück, durch die Haselstockpalisade ins Buschinnere gezwängt und sich hatte fallen lassen. Er war gefallen
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