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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition)
Autoren: Peter Handke
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und nie wieder aufgestanden. Er war geliebt worden, und wie!, von seiner Mutter, oder von wem, aber selbst die Liebe, das Geliebtwerden, das weiterhin Geliebtsein, und wie!, würde ihm nicht mehr aufhelfen. Er war gestorben, nicht für die und jene anderen, sondern für sich selber, ob nun ein toter Toter oder ein lebender. Er war ein Verlassener, der Verlassene, von sich selbst wie von der Welt. Und seinesgleichen – nein, er glich niemandem mehr, und niemand seinesgleichen glich ihm oder sonstwem – fielen zuhauf auf die fremde und täglich fremdere Erde, von der sie, gleich ihm, nie wieder aufstanden, und meist bereits als Junge, ja, als Kinder. In der Sekunde jetzt geriet gerade wieder ein Kind, von einem Schreckensmoment zum andern, aus seinem Kinderspielhimmel, und jetzt noch eines und wieder eines, und nie mehr würden diese Kinder in ihren Kreis zurückfinden. Ausgespielt. Helfen! Ja. Aber wie? War ihnen überhaupt zu helfen? Wem war überhaupt noch zu helfen?
    Es war meinem Schauspieler nicht anzusehen. Doch es drängte ihn, seit je, zu helfen, täglich. Er meinte, oder wußte, es werde Hilfe gebraucht, da, dort, mehr und mehr. Fürs erste konnte er freilich nur das Schulheft zu sich stecken, und so beulten sich ihm die Rocktaschen weiter aus. Sollten sie: bis zum Abend wären sie unübersehbar ausgebeult. (Auch in seinen Filmen hatte er oft ausgebeulte Taschen.)
    Unversehens war der Himmel blau geworden. Er war nicht bloß blau, sondern blaute, und blaute. Es war das ein Blauen von einer Zartheit, daß man sich in die Sicherheit gewiegt fühlte, diese Zartheit würde nie vergehen. Von dem Blauen oben leuchtete darunter der ganze Wald. Und zugleich sah der Schauspieler im Weitergehen das Ausgeleuchtetwerden der Dinge im Umkreis als das Licht eines letzten Tages, »meines letzten Tages«, und verbot es sich wieder, derart mit sich zu reden: »Wie leichtfertig du dahinredest. Du darfst nicht so denken. Du darfst nicht. Zeit, daß du unter die Leute kommst.«
    Hinter sich hörte er dann jemand. Ein Holzprügel knackte unter den Sohlen des anderen. Aber noch bevor er sich umdrehte, wurde ihm bewußt: Das Geräusch stammte von ihm. Und es blieb in der Folge nicht bei der einen Täuschung. Ein Hubschrauberknatterte nah und näher – das Hemd im Gehwind. Ein Knistern im Dickicht rührte von der Feder in seinem Hut. Ein Baum kam ins Stürzen: sein Gähnen. Das Knurren des unsichtbaren Hundes dort vorn: sein Magen. Eine Gruppe von Gehern, die weit weg einen Chorgesang anstimmten: er selber, allein, war, ohne das zu merken, in ein Singen, ein Summen gefallen. Jemand spritzte ihm von unten aus den Farnen und hohen Gräsern etwas in das Gesicht: wieder er, der unbewußt im Vorbeigehen die besonders prall aufgeblähte Hülse eines Springkrauts zwischen die Finger genommen hatte.
    Das Platzen des Springkrauts, wenn man es nur leicht streifte: eine Zeitschwelle im Jahr, im Sommer, so wie das Nachwehen der gerade aufgeblühten Haselkätzchen in dem sonst unmerklichen Wind eine Zeitschwelle im Vorfrühling war, und das feine Aufreißen der Nußschalen eine Zeitschwelle im Vorherbst. Noch und noch solche Zeitschwellen im Jahr hatte er einmal gekannt. Aber inzwischen hatte er die allesamt vergessen. Er wußte sie nicht mehr, oder wollte sie nicht mehr wissen; sie hatten, für ihn, ihre Bedeutung verloren. Nur eine der Zeitschwellen konnte und wollte er nicht vergessen: das Kreisen des Adlers, hoch und höher im Himmel, ruhige Spiralen im Blau, sich entfernend und zuletztwiederkehrend und weiter die Kreise ziehend, während unten auf der Erde, nach Stunden der Stille, die Stunde der noch im einen Grad tieferen, einer stofflichen Stille anberaumt war, in welcher nicht einmal mehr ein Grillenzirpen sich hören ließ, allein sie, die Stille, mit ihrem Zeichen, dem Adler in der Höhe, die Zeitschwelle des Hochsommers. Und indem er jetzt daran dachte, hob er den Kopf, und dort oben in dem Blauen da ging es, wie gedacht so gewahrt, sage und schreibe vor sich, das Adlerkreisen mit reglos gestreckten Schwingen, himmelhoch über all den flatternden, kreuz und quer schießenden, geradewegs durch die Lüfte rudernden Vogelvölkern. Heute war also Hochsommer.
    Und, ja, noch eine andere Zeitschwelle des Sommers wollte er nicht vergessen: die während dieser ein oder zwei Wochen werweißwarum von den Falken fallengelassenen Federn, immer nur eine allein, eine braungrüngrauweiß getigerte, eine Besonderheit unter den Vogelfedern auf dem
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