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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition)
Autoren: Peter Handke
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geschaut.
    Gehüllt in den gleichmäßig starken Regenschwall ohne Wind, schlief er noch einmal ein. Obwohl ihm einiges bevorstand, am heutigen Tag und besonders für den morgigen, war ihm, als habe er alle Zeit auf Erden, und zugleich als sei das schon Teil und Anfang der ihn erwartenden Konfrontation. Es war ein so leichter Schlaf, daß der Mensch da in ihm entschwebte. Wenn er noch etwas verkörperte, dann einzig den Schlaf. Fast immer erscheinen in den Filmen die Schauspieler, wenn sie Schlafende darstellten, und sei es noch so lebensecht, fragwürdig. Der da hingegen, mochte er auch, nach dem ersten Erwachen, ganz bei Bewußtsein bleiben, schlief wirklich, während er den Schlaf spielte, und schlief und schlief, und spielte und spielte. Und wenn er dabei träumte und dem Zuschauer etwas vorträumte, so wiederum allein das Schweben und Entschwebtsein. Es war ein Traum ohne Handlung, er konnte darin nicht etwa fliegen. Aber angeblich hatte auch das Traumschweben, gleich dem Fliegenkönnen, eine Bedeutung. Nur hatte er die vergessen, so wie er vieles im Lauf der Jahre entschlossen vergessen hatte.
    Das ist der Moment, zu erwähnen, daß der Mann, von dem hier erzählt wird, in der Tat ein Schauspieler ist. Als ganz Junger hatte er, im kleinen Betrieb seines Vaters, ein Handwerk gelernt und, oft auchzusammen mit dem Vater, querhin durch die kleinhäuslerischen Vororte im Nordwesten von B. Fliesen verlegt. Das war ihm immer noch anzusehen, und nicht nur an den Händen, und vielleicht stärker noch anzumerken, an den Bewegungen – einem häufigen Zurücktreten, Rückwärtsgehen, wieder Vortreten –, an den tiefen Blicken – seinem Aufblicken vor allem, jäh, nach einem langen Starren bodenwärts, seinem Augenschmalwerden in manchen Filmszenen, für nichts und wieder nichts, ohne jede Pose, ohne angelernte Bedeutung wie nicht selten bei sonstigen Filmhelden. Bei ihm war das, wie sagt man, die zweite Natur geworden, oder überhaupt die Natur?
    Wie, die Geschichte eines Schauspielers, an einem einzigen Tag, vom Morgen bis tief in die Nacht? Und eines Schauspielers nicht bei seinem Tun, sondern beim Müßiggehen? Solch einer als der Held, so oder so, einer Geschichte, einer dazu ernsten? – Niemand Gefährdeter, niemand Trittfesterer als ein Schauspieler, einer wie er. Niemand, der im Leben weniger Rollenspieler ist. Er, der Schauspieler, als »ich!«, das Mehr an weniger Ich. Ohne seine Darstellerarbeit – wenn er nicht spielt – tagelang ausgesetzt. So einer ist episch, auch erdenschwer. Es ist von ihm vielleicht eine Geschichte zu erzählen wie von kaum jemand sonst.
    Seine ersten Jahre als Schauspieler waren auf dem Theater vergangen. Die Bühnen waren klein, seine Rollen aber immer die großen, von Anfang an. Und trotz seiner Jugend stellte er fast nur die Alterslosen dar, den Odysseus, den Engel, der den Tobias auf dessen Heilsuchreise für den Vater begleitet und führt, den Othello, ohne schwarze Schminke, den Bäcker in der »Frau des Bäckers«, der seine ehebrecherische Frau zuletzt verzeihend wieder aufnimmt, den Emil Jannings, wenn ihm entfährt, wie es so »schrecklich schmerzhaft« sei, »zugleich lebendig und allein zu sein«. Alterslose Helden, oder Idioten, wie etwa den Bennie in der Dramatisierung von William Faulkners »Schall und Wahn«, wo die winzige Vorstadtbühne unter dem Jammerblick des »Hausstocks« – wie die Zurückgebliebenen einmal hießen – sich zum Universum auswuchtete, oder Fastkinder und überhaupt Lebenslangkinder, wie den Parzival oder den Kaspar Hauser, in welcher Rolle er eine Mutter, zum ersten und so ziemlich letzten Mal im Theater zu Gast, an ihren verstoßenen Sohn, den Bauhilfsarbeiter hinter den sieben Bergen in seiner Baracke, gemahnt hat: So erbarmt hatte er, ihr Sohn, da auf der Bühne, daß sie sofort zu ihm fuhr und ihn zu sich heimholte, für eine Zeitlang. Nur den Faust, wenngleich oft dazu angestachelt, hatte er sich seit je zu spielen geweigert, und würde auch jetzt für dessen ewiges Tätigsein zum Gerettetwerden nicht einmal sein angedeutetes Ausspucken übrighaben.
    Mit seinen Filmen war er zum Star geworden, ohne daß ihn auf den Straßen, die sein Element blieben, bis auf seltene Ausnahmen jemand erkannte. Alles an ihm, seine Gestalt, seine Haltung, seine Bewegungen, war unscheinbar, und er konnte sich darüber hinaus unsichtbar machen. Jedenfalls war das seine Gewißheit, und bis zum heutigen Tag hatte die gewirkt. Im Film dagegen, in gleich welchem,
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