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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition)
Autoren: Peter Handke
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in der Höhe gelöst und war auf den Tisch gestürzt. Und wieder hätte sich der Mann damit zufriedengeben können, daß das Ding heil geblieben war, obwohl der Tisch aus Stein war. Abermals nein: Augenblicklich griff er sich dasTäßchen und schmiß es an die Wand, »und da hätte auch ein Wunder nichts mehr ausgerichtet«.
    Der letzte Absatz des Kapitels bestand aus des Helden Schmährede an Zitronenkern, Untertasse und noch vieles mehr: »Dreckskerle. Abschaum. Nichtsnutze. Nazischweine. Katzelmacher. Saboteure. Altermondialisten. Vaterlandslose Gesellen. Schrumpfköpfe. Landstreicher. Krauterer. SMS- ler. Rollkoffer. Ladenschwengel. Liebestöter. Falsche Ellipsen. Ovales Elend. Giftzwerge. Hurenkinder …«
    Das folgende Kapitel hob damit an, daß der Mann aus dem Haus auf die Straße trat. Ein handgeschriebener Zettel war da ins Buch eingelegt: »Keine Angst – am Ende geht es doch noch gut aus.« Der Leser blätterte zurück, und da stand das Motto der Geschichte, ein Sprichwort: »Die Ungeduld vernichtet die Existenz.«
    Wie er es im eigenen Haus gewohnt war, wusch der Schauspieler ab, lüftete – ließ die Regenluft herein, die allmählich zur Nachregenluft wurde –, schüttelte das Bett auf, und setzte seine stillen Geschäftigkeiten drinnen und draußen fort. Er verfugte eins der alten Fenster, die wohl schon von Anfang an nicht recht dicht gewesen waren. Mit dem Regen hatte da einSchwarm von Ameisen seinen Durchschlupf gefunden – Schwarm, denn die Ameisen waren geflügelt. Sie häuften sich diesseits und jenseits der Scheibe und krochen und schwirrten durch und übereinander, ohne zu einem Flug abzuheben. Seit langem hatte er diese Fliegen mit den kurzen Ameisenleibern unter den langen durchsichtigen Flügelpaaren nicht mehr gesehen; er hatte sie ausgestorben geglaubt. Auf dem Fensterbrett zwei Gläser, aus denen die Frau und er am Vorabend getrunken hatten. Nachdem er das seine, das sozusagen schmutzigere, abgewaschen hatte, wollte er auch das ihre abwischen. Statt dessen ließ er es, wie es war, betrachtete es lange und rückte es dann sogar eigens ins Licht.
    Er fand den Staubsauger, saugte sorgfältig, bis in die kleinsten Winkel, kehrte den Keramikboden im Vorhaus, schrubbte mit einer Drahtbürste, die er gleichfalls wieder blind, in einem einzigen Griff, ausfindig gemacht hatte, die Sandsteinstufen zur Haupttür, wobei er bedachtsam die Muster im Stein, die vorzeitlichen Muschelwindungen und die Zacken der ebensolchen Austernbänke zum Vorschein und zum Leuchten brachte. Zuletzt rechte er, mit einem hölzernen Rechen, den Kies im Hofbereich, der das Haus von dem Grasland trennte; Gewitterregen und Wind hatten da rhythmische Wälle, hintereinandergestaffelte, von den Lindenblüten und Edelkastanienschnüren des Waldrands dahergetragen. Überlange war er beim Rechen, fast, als wollte er Zeit gewinnen.
    Zurück im Haus, rasierte er sich, eher schnitt sich den Bart vor einem Zwergtaschenspiegel, mithilfe der kleinwinzigen Schere seines Taschenmessers. Wie jedesmal sparte er sich die zwei, drei deutlich roten Barthaare unter all den braunen und grauen bis zum Schluß auf: er betrachtete an ihnen den durchwegs rötlichen Bart seines Vaters. Und indem er diese zwei oder drei Stoppeln, stachliger und borstiger als die andern, jetzt abknipste, sagte er, fast ohne Lippen und Gesichtsmuskel zu bewegen, als werde er tatsächlich gerade barbiert: »Hallo, Vater. Da sitzt er, dein Sohn, in einem fremden Land und grüßt dich wieder einmal. Noch bin ich guter Dinge, hier, allein, weit weg von allem, im Haus der Frau, die ich als meine Komplizin sehe. Aber heute abend soll ich gefeiert werden, dort unten in der Megastadt, vor einer Megamenge. Und ab morgen soll ich einen Amokläufer spielen. Wie soll ich das durchstehn, Vater? Was rätst du mir? – Na, bist mir ja nie mit einem Rat gekommen, zum Glück, und ich hätte den auch nie angenommen, jedenfalls nicht von dir. – Noch sitzt dein Sohn im stillen Haus, Vater. Noch freut ersich des Tages, noch freut er sich des Lebens, noch hat er Lust auf das Dasein, nicht mehr oder weniger.«
    Fingernägelschneiden: seine rissigen, leicht brechenden Nägel, als sei er immer noch der Fliesenleger. Zehennägelkappen: die offenen Stellen zwischen den Zehen, nicht zugeheilt seit der Zeit, da er barfuß im nassen Beton, der »Malte«, gestanden und gearbeitet hatte, in der Überzeugung, er sei nicht wie sonst jemand und ihm könne nichts geschehen.
    Bügeln des einen Hemds
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