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DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

Titel: DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
Autoren: Rachel Neumeier
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oder irgendetwas zu tun, was vielleicht half. Doch da meldete sich nichts, obwohl sie sich bemühte, Gedanken und Herz einladend zu leeren. Sie hatte keine Vorstellung, wie sie Tan aus seiner tiefen Stille locken könnte.
    Sie könnte ihm eine Schreibfeder suchen, seine Finger um diese schließen und ihm ein Buch mit leeren Seiten hinhalten. Die Empfindung einer solchen Feder, der Geruch des Papiers – vielleicht lockte ihn das aus sich selbst hervor. Allerdings nur dann, wenn er seine Gabe nicht restlos verbraucht hatte, dachte Maianthe; denn dann trieb ihn vielleicht die Trauer über seinen Verlust nur umso tiefer in diese Stille, statt ihn heraus in die Welt zu locken.
    Sie beugte sich vor, streckte eine Hand aus und fasste ihm an die Wange. »Tan«, sagte sie und stellte dann mit einer Spur Verzweiflung fest, dass sie nicht einmal mit Bestimmtheit wusste, ob das sein richtiger Name war. Er log so lässig darüber, wer er eigentlich war … Er log mit Worten, Stimme und Miene, und dann drückte er die Wahrheit mit dem eigenen Blut aus, schrieb damit auf leeres Papier … Sie sprach also ihren eigenen Namen aus, denn sie wusste, dass wenigstens dieser stimmte.
    Seine Augenlider flatterten.
    Maianthe war zu erschrocken, um sich zu rühren oder erneut etwas zu sagen.
    »Maianthe?«, flüsterte er mit einer Stimme, die so wund und rau klang, als hätte er die neue Ordnung der Welt nicht mit einer Schreibfeder niedergelegt, sondern durch laute Schreie.
    Das befreite sie selbst aus der Reglosigkeit. Sie lachte und ertappte sich dabei, dass sie weinte. So matt seine Stimme auch klang, das Echo dahinter war doch sehr kräftig. Tatsächlich war das Echo hinter ihm insgesamt auf einmal sehr kräftig. Ohne zu wissen, woher, wusste sie doch auf der Stelle, dass er seine Rechtskundigengabe nicht verloren hatte – dass er gar nichts verloren hatte. In jeder bedeutsamen Hinsicht war er nach wie vor ganz er selbst, und Maianthe freute sich unvermittelt über die seltsame neue Wahrnehmung, die ihr diese Gewissheit vermittelte. Sie sagte durch ihre Tränen hindurch: »Tan, ich bin hier! Und du auch. Wir sind in Sicherheit; wir haben alles in Ordnung gebracht, haben alles geschafft, sind zu Hause … Erinnerst du dich an alles? Erinnerst du dich an überhaupt etwas?«
    Tan blinzelte, blinzelte erneut, drehte den Kopf und sah sie an. Eine leichte Falte tauchte zwischen seinen Brauen auf, und er runzelte die Stirn. »Zu Hause?«, flüsterte er. »Versilbert von den Tränen des Herbstes, besetzt von den Gemmen des Winters, bewegt vom Atem des Frühlings und genährt von den reichen Gaben des Sommers … Bin ich nach Hause gelangt?«
    »Ja«, antwortete Maianthe. Sie fasste ihm erneut an die Wange, ganz leicht, denn sie wollte ihm nicht wehtun. »Oh, ja! Bemühe dich nicht um Erinnerungen.« Maianthe goss ihm etwas Wasser in einen Becher. Dann wusste sie nicht recht, ob er sich aufsetzen konnte – ob sie ihn überreden sollte, sich aufzusetzen. Vielleicht sollte sie die Treppe hinabrufen, jemand möge schnellstens nach Iriene schicken …
    »Ich erinnere mich«, sagte Tan mit heiserer, aber schon etwas kräftigerer Stimme. Er begann, sich mit unkoordinierten Bewegungen aufzusetzen. »Maianthe …«
    »Ich hatte solche Angst, wir hätten dich verloren.« Sie schloss seine Finger um den Becher und setzte in viel leiserem Ton hinzu: »Dass ich hätte dich verloren.« Sie sah dann rasch auf und begegnete seinem Blick.
    Tan kräuselte die Lippen, schüttelte jedoch den Kopf. »Dein Vetter …«
    Maianthe war überrascht. Dann lächelte sie. »Du hast uns alle gerettet«, erklärte sie. »Wir alle haben dazu beigetragen, du aber am meisten. Denkst du, mein Vetter wüsste das nicht?«
    »Das entspricht nicht ganz meinen Erinnerungen …«
    »Jedenfalls entspricht es meinen Erinnerungen«, widersprach Maianthe entschieden. »Tan … Ist das überhaupt dein richtiger Name?«
    Er legte den Kopf leicht schief, wandte aber nicht den Blick ab. »Das ist mein Name. Meine Mutter heißt Emnidde. Mein Vater war, wie man so sagt, achtlos.« Er wartete, schien die Luft anzuhalten – obwohl sie nicht sagen konnte, woher sie das wusste, so flach, wie sein Atem ging.
    »Tan«, sagte Maianthe mit fester Stimme, »Sohn von Emnidde. Das wird gehen, wenn du mir versprichst, auch darauf zu reagieren. Ich möchte nie wieder nach dir rufen und dann feststellen, dass ich deinen richtigen Namen nicht mal mit Gewissheit kenne …«
    Tan schloss die
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