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Der Goldkocher

Der Goldkocher

Titel: Der Goldkocher
Autoren: Roland Adloff
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warf sich zwischen beide…
    ***
    Die Bilder hasteten, rasten, neue wollten kommen und bedrängten einander. Lips atmete tief dagegen, rieb sich das Gesicht und schlug sich fest mit den Handflächen, bis der wütende Strom aus Stimmen und Gesichtern verschwand. »Rausschlagen werd ich dir den Willen!« Die Stimme des Vaters echote noch in seinem Kopf, und um sie zu unterdrücken, summte er stoßartig den Refrain des Kinderliedes. Nichts hatte er vergessen, obwohl inzwischen Jahre vergangen waren. Jetzt war Lips 15 Jahre alt und er wusste, dass er weg musste – weit weg von hier, bevor es zu spät war. Schon bald, sagte er sich und sah hoch in die Regenwolken, die sich näher schoben.
    Auf der Rückseite des Grenzsteines fand Lips die verwitterten alchemistischen Zeichen. Lotter-Stoffel hatte eines Tages eine alchemistische Handschrift in seiner Diebesbeute gehabt. Als er wenig später im Rausch lag, hatte Lips die Handschrift gestohlen, aufgeregt darin gelesen und die geheimnisvollen Zeichen in den Grenzstein geritzt. Der Schreiber verkündete, er kenne den Weg zum Stein der Weisen, der Tinktur, um aus einer billigen Bleisuppe Gold herzustellen, und versprach demjenigen, der den Anweisungen folgte, alles Glück auf Erden. Immer wieder betrachtete Lips die verwitterten Zeichen und dachte daran, wie er damals mit Arnold davon geträumt hatte, dass sich ihnen das Geheimnis offenbarte und sie mit vollem Geldsack in die Welt hinausgehen konnten. Aber so? Ohne alles? Er wusste um die Härte da draußen in der Welt der Wittischen, wie die Menschen, die nicht zur Gaunerwelt der Kochemer gehörten, abfällig genannt wurden.
    Lips nahm sein Messer und spitzte einen Stock an. Die Finger waren klamm vor innerer Kälte. Er rieb sie und blickte nochmals hinüber ins Sächsische, dann wischte er mit der flachen Hand die Erde glatt und kratzte Buchstaben seines Namens in den Boden: LIPS TULLIAN . Es war auch der Name des Vaters. Einen eigenen hatten ihm die Eltern nicht gegeben, denn er sollte ganz nach dem Vater geraten. Ganz entfernt meinte er das Bellen eines Hundes zu hören, das der Wind herantrug. Lips sah sich noch einmal um, dann vergaß er sich bei den Schnörkeln, die er den Buchstaben zur Zierde anfügte. Sie würden ihn bald mit auf Diebestour nehmen. Er war jetzt alt genug. Die kräftige Statur des Vaters war auf ihn gekommen, und er wurde zum Mann. Oder ging es um das Schreiben? Sie brauchten einen neuen Schreiber für Drohbriefe und falsche Pässe. Seit Safrans-Georg verschwunden war, hatten sie niemanden mehr dafür. Egal, was sie mit diesem jetzt anstellten, der Vater würde ihn nicht mehr dafür nehmen.
    Was sonst hatte der Schwarze Frieder mit dem Vater zu besprechen? Ganz unheimlich war ihm der Frieder. Man hörte ihn nicht kommen, obwohl er Tag und Nacht schwere Stiefel trug. Lautlos wie eine Spinne bewegte er sich, stand auf einmal neben einem, schaute einem ausdruckslos auf die Finger und ging weiter, ohne etwas zu sagen. Vielleicht, überlegte Lips, war der Vater jetzt sogar stolz auf seinen Sohn, dass der einen Drohbrief schreiben konnte!
    Ein erster Regentropfen traf ihn. Dem großen T seines Namens fügte Lips Schnörkel an, die sich wie eine Kletterpflanze um den Buchstaben wanden. Die L gelangen schön gleichmäßig, und vor dem senkrechten Strich kratzte er nochmals eine dünnere zweite Linie in den Boden. Er musste weggehen. Bald, denn er war ja schon ein halber Kochemer. Aber wohin? Auf jeden Fall musste er erst noch richtig Schreiben lernen, bevor er in die andere Welt ausbrach, zu Menschen, die sich nicht vom Rauben und Stehlen nährten und wie eine blutrünstige Jagdmeute über ihre wehrlosen Opfer herfielen. Die sich nicht gegenseitig bestialisch umbrachten, sondern ihre Söhne ein ehrbares Handwerk lernen ließen und nach den Gesetzen lebten. Er sehnte sich danach, einer von den Wittischen zu werden, und gierte danach, Bücher der Gelehrten zu lesen, ihre Sprachen zu lernen und alles über die Welt da draußen zu erfahren. Er musste nur weit genug weggehen! Sehr weit, wusste er. Viel weiter als Safrans-Georg.
    Plötzlich sah Lips Stiefel und eine Hand fasste ihn fest im Nacken. Erschreckt fuhr er auf.
    »Nennt man das auf Wache stehen?«, schrie Tullian und schlug ihm ins Gesicht. Lips wurde schwarz vor Augen, er taumelte und fiel auf den Boden. Einen Augenblick später sah Lips, wie der Vater mit dem Stiefel die Buchstaben ihres gemeinsamen Namens zerfurchte.
    »Blattscheißer, verfluchter!«,
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