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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Schilder gelesen haben, die Leute gesehen haben, die die Fotos schießen. Wir können nicht aus der Aura heraus. Wir sind Teil der Aura. Wir sind hier, wir sind das Jetzt. «
    Er schien unendlich erfreut darüber.
    »Danke, Frederic. Also, was soll das?«
    Niemand rührte sich. Barstows Blick wanderte durch den Raum.
    »Hm, Brenda. Was haben Sie gedacht, als Sie das gelesen haben?«
    Aber Brenda, falls sie sich dabei etwas gedacht hatte, schien sich nicht daran zu erinnern. Sie zuckte ratlos mit den Schultern und lächelte. »Es ist irgendwie komisch, aber ich kann nicht so recht erklären, warum«, sagte sie.
    »Er macht sich über Touristen lustig«, sagte jetzt Frederic. »Diese ganzen Leute mit ihren Fotoapparaten, die vor lauter Fotografieren die Welt nicht sehen. Ich meine, das ist doch totaler Schwachsinn, die meistfotografierte Scheune Amerikas.«
    »Warten wir's mal ab«, sagte Barstow.
    Sein Blick wanderte wieder durch den Raum und kam ausgerechnet auf mir zu ruhen.
    »Nun, Matthew, was glauben Sie? Was meint Murray, wenn er von der Aura dieser Scheune redet? Fällt Ihnen da nichts ein? Aura? Was ist eine Aura?«
    »Der Glanz um etwas Heiliges, Einmaliges«, schlug ich vor.
    »Aha. Etwas Einmaliges. Diese Scheune hier ist aber genau deshalb einmalig, weil sie zigmal fotografiert, also kopiert worden ist. Ihre Einmaligkeit besteht sogar darin, dass sie die uneinmaligste, die meistkopierte Scheune Amerikas sein soll. Und genau dieser Umstand soll ihre Aura ausmachen. Ist das nicht seltsam? Ist das nicht ein Widerspruch?«
    Wieder herrschte Stille im Raum. Ich war ebenso ratlos wie die anderen. Barstow fragte schon wieder mich.
    »Wie war das noch mit der Aura, Matthew? Fällt Ihnen bei diesem Begriff nichts ein? Denken Sie mal nach. Die Aura eines Kunstwerks zum Beispiel. Was passiert denn damit, wenn man es reproduziert? Klingelt da bei Ihnen kein Glöckchen?«
    Doch, jetzt fiel es mir ein. »Ja«, sagte ich ein wenig beschämt. »Benjamin natürlich. Der Kunstwerkaufsatz.«
    Ich hätte ebenso gut behaupten können, den Stein der Weisen gefunden zu haben. Alle Blicke waren plötzlich voller Ehrfurcht auf mich gerichtete. Und ich konnte kaum glauben, dass ich nicht von selbst darauf gekommen war. Kein literaturwissenschaftliches Seminar in Berlin, in dem dieser Aufsatz nicht irgendwann zur Sprache gekommen war. Und dieser DeLillo hatte sich einen raffinierten Spaß damit erlaubt.
    »Erklären Sie uns doch bitte diesen Zusammenhang, Matthew.«
    Ich versuchte zu erklären, was ich aus dem Stegreif zusammenbrachte: dass Kunstwerke durch mechanische Reproduktion ihre Aura, ihre Einmaligkeit verloren und dadurch das Kultische und Religiöse aus der Kunst insgesamt verschwand. Nach Benjamin waren vor allem die Fotografie und die Massenproduktion für diese Entwicklung verantwortlich. Durch das Verschwinden des Kultisch-Religiösen entstand jedoch auch Raum für etwas Neues in der Kunst: für das Politische.
    Barstow kam mir zu Hilfe. Ich konnte nur staunen, wie präzise er den Text im Kopf hatte, als hätte er sich heute extra darauf vorbereitet. Er trällerte Benjamins Kernthesen herunter wie ein Liedchen, das man einfach auswendig wusste und nicht vergessen konnte. Selbst für Frederic, der nichts begriff, hatte er eine Erklärung:
    »Schauen Sie, Frederic, früher sind die Leute weit gereist, um ein Gemälde zu sehen. Das war Teil der Aura des Gemäldes. Es war einmalig und man musste einige Anstrengungen auf sich nehmen, um es zu sehen. Heute kann es Ihnen passieren, dass Sie in einer x-beliebigen Kneipe beim Pinkeln aufschauen und einen Botticelli vor der Nase haben. Da ist nicht mehr viel übrig von der Aura des Ortes oder des Gemäldes, oder?«
    Und dann las er selbst noch einmal DeLillos feinsinnige Parodie vor. Jetzt begriff es wirklich jeder. »Benjamin ist hier das, was wir als Metatext bezeichnen«, beendete Barstow seine Ausführungen. »Er ist die Folie, vor die die Szene gesetzt ist. Es geht überhaupt nicht um irgendeine dämliche Scheune. Es geht um eine moderne Kunstauffassung, die heute nicht mehr viel taugt. Diese Szene ist eine postmoderne Posse der intelligenteren Art. Der ganze Roman ist übrigens so aufgebaut. Warten Sie nur ab, Brenda, bis Ihnen das Ende um die Ohren fliegt. Und wenn Sie es noch nicht getan haben, dann lesen Sie vorher Nabokovs Lolita. Nichts an White Noise ist realistisch. Es sieht nur so aus. Aber meinen Sie vielleicht, diese bescheuerten Rezensenten hätten das
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