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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Studienschwerpunkte: Shakespeare, Literaturtheorie, Postmoderne. Thema des Vortrags: Shakespeares Sonette. Die nächste Information war noch interessanter. Respondent: Marian Candall-Carruthers. Ich notierte mir den Termin, 12. November. Er gehörte also in den Kreis der Erwählten. Ich las noch einmal die Überschrift über der Ankündigung. Die Vorträge von besonders begabten Studenten unserer verschiedenen Fakultäten bilden auch dieses Jahr wieder Höhepunkte des Studienjahres. Sie finden im Herbsttrimester jeweils donnerstags um 19 Uhr im Brooker Auditorium statt. Reservierung erwünscht.«
    Ich war unschlüssig, wie ich die unablässige Wettkampfstimmung in diesem Land finden sollte. In Berlin wäre die Formulierung besonders begabt auf einem Plakat sicher nicht lange unkommentiert geblieben. Ich ging zum Buchladen, suchte meine Naturalismus-Romane zusammen und machte einen Umweg zum Shakespeare-Regal. Dort blätterte ich eine Weile in den verschiedenen Ausgaben herum und entschied mich schließlich für ein Exemplar, das neben dem ausführlich erläuterten Text auch das Faksimile der Erstausgabe der Sonette von 1609 enthielt. Blieb nur die Frage, wann ich neben Sister Carrie, The Octopus und McTeague auch noch Shakespeares Sonette lesen sollte?
    Am nächsten Morgen schwamm sie neben mir im Pool. Und am drauffolgenden Tag war sie wieder da. Es war mehr Betrieb als üblich. Nach ein paar Minuten teilten sich bereits zwei Schwimmer die Bahn neben mir. Ich legte einen ziemlich angeberischen Spurt ein, um sicherzugehen, dass ich auf den letzten zweihundert Metern in meiner Bahn unangefochten allein blieb. Dann wartete ich am Beckenrand, bis sie herangekommen war. Dass sie keine Rollwende machte, hatte ich schon beobachtet. Aber sie schwamm ohnehin gerade Brust und hörte mich daher sofort, als ich sie ansprach.
    »Ich bin fertig«, sagte ich. »Du kannst meine Bahn haben.«
    Sie tauchte unter der Absperrleine durch und kam neben mir wieder hoch. »Thanks«, sagte sie nur und schwamm sofort weiter. Ich spürte den Rückstoß von ihrem Beinschlag.
    Ich beschloss, die Sache damit auf sich beruhen zu lassen. Ich erstickte in Arbeit. Sie hatte einen Freund. In acht Monaten wäre ich wieder in Deutschland. Was sollte der Blödsinn? Am selben Tag war jedoch wieder das Filmseminar. Und sie sprach mich an, als ich die Treppe heraufkam. »Du bist Profi, oder?«
    »Ich? Nein. Früher habe ich Wettkämpfe geschwommen. Als Schüler. Das ist alles.«
    »Sieht man. Danke für die Bahn. Ich heiße Janine.« »Matthew«, sagte ich. »Du schwimmst aber auch nicht schlecht.«
    Sie schüttelte den Kopf und lächelte. »Nur zum Spaß. Du bist aus Deutschland, nicht wahr?«
    Goldensons Kurs hatte bisher vor allem im Dunkeln stattgefunden, daher war der Kontakt zwischen den Studenten recht spärlich gewesen. Demnächst würde sich das ändern, wenn die Referate drankämen und Diskussionen geführt werden würden. Bisher kannten wir uns alle nicht viel besser als Kinobesucher, aber dass ich ausländischer Gaststudent war, hatte sich wohl herumgesprochen. »Gefällt's dir hier?«
    Ich sagte ein paar Belanglosigkeiten und versuchte vor allem, sie nicht dauernd anzuschauen. Kaukasierin war sie jedenfalls nicht. Von wem hatte sie wohl diese hellen Augen und diese karamellfarbene Haut? Sie stamme aus New Orleans, sagte sie. Sie war im dritten Studienjahr und noch unentschieden, was sie später machen wollte. Vielleicht eine Journalismusschule besuchen. Vielleicht Film. Vielleicht Friedensarbeit in Afrika. Kurz darauf flimmerten die ersten Szenen aus Metropolis über die Leinwand und verscheuchten die Fantasiebilder, die ich mir schon jetzt von ihr gemacht hatte: Janine als Peace-Corps-Aktivistin in einem afrikanischen Wellblechslum. Durchaus vorstellbar. Mit David Lavell?

Kapitel 10
    Ich begann John Barstow zu mögen. Der Mann war anstrengend, da er die Angewohnheit hatte, Studenten einfach aufzurufen, anstatt auf Wortmeldungen zu warten. Dafür erlebte man bei ihm in jeder Stunde etwas Unerwartetes. Und er schien Interesse an mir zu haben. Das war angenehm, denn ich hatte nicht das Gefühl, dass sonst jemand von meiner Anwesenheit in Hillcrest Kenntnis nahm. Ich wusste, dass meine Noten nach New York zum deutschen Auslandsamt gemeldet würden und dass ich einen bestimmten Durchschnitt erreichen musste, um mir schlimmstenfalls eine Kündigung des Stipendiums zu ersparen. Aber was die Universität selbst betraf, so war ich ein geduldeter
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