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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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dann waren weitere Partygäste dazugekommen, sodass wir uns erst jetzt auf dem Umweg über Zigaretten wiedergetroffen hatten. Er kam aus Freiburg, überragte mich um zwei Köpfe und war ein schlaksiger Typ mit Nickelbrille. Er hatte bei Ruth studiert und bereitete zurzeit seine Promotionsklausuren vor, war also schon ziemlich weit. Ich erzählte ihm von meinem Gespräch mit Billings und versuchte es normal zu finden, dass ein angehender Germanist Cowboystiefel trug und um den Hals ein texanisches Amulett an einem dünnen, geflochtenen Lederband baumeln hatte.
    »Wenn du nur ein Jahr bleibst, lassen sie dich nirgendwo richtig rein«, erwiderte er. »Diese looer-Kurse sind nicht alle schlecht. Die meisten haben allerdings nicht einmal Gymnasialniveau. Wer unterrichtet den Kurs?«
    Ich gab Auskunft.
    »Goldenson? Nie gehört.«

    Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und ließ die Kippe in seine Bierdose fallen, wo sie mit einem leisen Zischen erlosch.
    »Wie lange bist du schon hier?«, wollte ich wissen.
    »Seit '83«, sagte er. »Vier Jahre.«
    »Und? Kein Heimweh?«
    »Es geht. Eigentlich ist alles, was mich an Deutschland jemals wirklich interessiert hat, hier komplett vorhanden.«
    Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Campus, der uns zu Füßen lag. Ruth Angerstons Haus stand auf dem Faculty Hill, einer hügelartigen Erhebung neben dem Universitätsgelände. Eine Straße schlängelte sich den Hügel hinauf. Links und rechts davon hatte man zweistöckige Häuser im mexikanischen Stil gebaut. Die meisten fest angestellten Professoren zogen die ein wenig ghettoartige Wohnsituation einer langen Anfahrt aus einer der umliegenden Gemeinden vor. Zudem waren die Häuser bequem, zwar etwas klein für amerikanische Verhältnisse, mit nur einer Garage und ohne Keller, aber dafür kümmerte sich die Universität um die Grünflächen, wodurch einem die kostspielige Gartenpflege abgenommen wurde. Die sündhaft teuren Parkgebühren auf dem Campus entfielen ebenfalls, denn man konnte die Institute leicht zu Fuß erreichen.
    »Hölderlin, Heine, Fontane, Hauptmann. Alles da. Erstklassige Ausgaben. Dreitausendachthundert laufend gehaltene Zeitschriften. Und sie sind vollständig. Handschriften von Gryphius bis Hannah Arendt. Nicht dass mich Barock interessieren würde ...«
    »Singt Winfried dir das Hohelied der Hillcrest Library?«, unterbrach uns eine weibliche Stimme. Eine junge Frau mit kurzen, roten Haaren trat zu uns und hielt eine noch nicht brennende Filterzigarette hoch. Ich gab ihr Feuer.
    »Hallo Doris. Das ist Matthias.«
    »Hi«, sagte sie und musterte mich ziemlich direkt. »Was war also noch mit Hannah Arendt?«
    »Nichts weiter«, gab Winfried zurück. »Ich wollte eh mal ans Büfett. Soll ich euch was mitbringen?«
    »Neu hier?«, fragte sie, nachdem Winfried verschwunden war. »Woher?«
    »Berlin«, sagte ich. Sie hatte eine Art zu fragen, die mir das Gefühl gab, dass alles, was ich ihr gegenüber äußern würde, dazu bestimmt war, allgemeiner Wissenstand ihres Bekanntenkreises zu werden.
    »Und? Erster Eindruck? Wie findest du's hier?«
    »OK. Aber ich bin erst eine Woche da.«
    »Und deine Freundin? Fehlt sie dir sehr?«
    »Ein Jahr geht schnell vorbei.«
    Der Ring an meiner linken Hand hatte sie wohl auf die falsche Fährte gelockt. Ich beließ es dabei.
    »Studierst du auch bei Ruth?«, fragte ich.
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Ich war bei Gary. Gary Helm. Aber ich bin hier fertig. Ich gehe übernächste Woche nach Columbus. Bin nur wegen Verwaltungskram noch mal hergekommen.«
    »Columbus«, sagte ich. »Schön da?«
    »Schön? Na ja. Sagen wir mal: besser als eine Gesamtschule in Krefeld oder Castrop-Rauxel.«
    Sie blies Rauch in den dunkelblauen Abendhimmel. »Germanisten sind hier genauso überflüssig wie in Deutschland. Aber wenigstens gibt es nicht Tausende davon, und noch hält sich Deutsch als Fremdsprache in den meisten Unis. Lange wird das auch nicht mehr dauern. Schau dich um. Überall Chinesen und Koreaner. Deren Kinder werden sicher kein Deutsch mehr lernen wollen. Germanistik kannst du abhaken.«
    Sie steckte den Rest der Zigarette in einen der Blumenkästen.
    »War nett, dich kennengelernt zu haben. Viel Glück. Ich muss weiter.«
    Sie verschwand wieder im Haus. Ich blieb noch eine Weile draußen und versuchte, mir auf dieses Gespräch einen Reim zu machen. Dann zog ich ihre Kippe wieder aus dem Blumenkasten und warf sie in Winfrieds Bierdose. Ich sollte endgültig das Rauchen
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