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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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aufgeben. Die Bekanntschaften, die darüber entstanden, wurden nicht unbedingt besser.
    Bevor ich die Party wieder verließ, nahm Ruth mich beiseite.
    »Ich war heute bei Billings, konnte aber nichts für Sie ausrichten.«
    »Das haben Sie getan? Das ist aber wirklich nett von Ihnen.« »Nicht der Rede wert. Aber Billings hat nicht ganz unrecht. Bei allem Respekt, Matthias: Im INAT haben Sie nichts verloren. Nehmen Sie das bitte nicht persönlich. Andererseits: In die looer-Kurse, in die Billings Sie gesteckt hat, gehören Sie auch nicht hinein. Wenn Sie möchten, können Sie an meinem Oberseminar teilnehmen. Wir sind bisher nur zu sechst, da wäre noch Platz für Sie. Es geht am Donnerstag los. Die Novellen von Kleist. Über Kleist haben Sie doch schon gearbeitet, oder?«
    »Ja. Die Dramen. Ich liebe Kleist.«
    »Na, da haben wir doch etwas gemeinsam. Dann melde ich Sie also an?«
    Auf dem Heimweg fiel mir wieder auf, wie menschenleer der Campus am Abend war. Der eine oder andere Jogger kam mir entgegen. Bisweilen sauste ein Pizza-Boy auf einem Elektro-wagen vorbei. Sonst war alles verlassen, dunkel und still. Nur am Seiteneingang der Cafeteria von Pinewood Hall gab es etwas Leben: Die Pizza-Boys mit ihren Elektrokarren, die dort warteten, um neue Ware zu laden.

Kapitel 9
    Klar, dass sie einen Freund hatte. Es versetzte mir dennoch einen Stich, als ich sie das erste Mal mit ihm sah. Die Metalltür, die zu den Handschriftensammlungen führte, hatte sich geöffnet und das schwarz gelockte Mädchen aus dem Filmseminar war zum Vorschein gekommen. Ihr Begleiter blieb an der schweren Eisentür stehen, die Hände in den Taschen seiner verwaschenen Jeans, lässig gegen den Rahmen gelehnt, ein Bein angewinkelt, womit er die schwere Tür hinter sich am Zuschlagen hinderte. Sie stand vor ihm, ihre Bücher und Hefte mit beiden Händen an die Brust gepresst, ebenfalls in Jeans, die aber eng und hüftbetont waren. Sie schaute zu ihm auf und sprach leise auf ihn ein. Er hörte stumm zu und nickte gelegentlich. Einmal strich sie ihm sanft über die Wange, und er küsste ihre Handfläche.
    Sie mochte also den Hippie-Typen. Seine Westküstenlässigkeit war unübersehbar: verwaschene Jeans, weißes T-Shirt, Ocean-Pacific-Sandalen. Sein Gesicht war gut geschnitten, fast weiblich in seiner Ebenmäßigkeit. Dazu die lockigen, braunen Haare, die so füllig waren, dass er sie mit einem schmalen, ledernen Stirnband bändigte.
    »Hi«, sagte jemand neben mir.
    Ich drehte mich um. Frederic Miller stand vor mir und streckte mir seine Hand entgegen. Ich ergriff sie und überlegte, ob ich aufstehen sollte. Aber er kam mir zuvor und setzte sich neben mich.
    »Das war echt cool mit der Sanduhr«, sagte er. »Dieser Barstow hat uns ganz schön hereingelegt, findest du nicht?«
    »Ja, hat er.«
    »Woher kommst du, wenn ich fragen darf?«
    »Aus Deutschland«, antwortete ich.
    »Uh hu. Deutschland. Cool. Noch nie dort gewesen.«
    Ich spürte die ersten missbilligenden Blicke. Offenbar hatte Frederic es auch gemerkt. Er senkte die Stimme und flüsterte:
    »Wenn du mich fragst, wird uns dieser Barstow die ganze Zeit nur verarschen. Das ist so ein Typ, ich rieche das, so ein Ich-verarsch-dich-bis-du's-raffst-Typ. Na ja, mach's gut. Nett, mit dir zu quatschen. Bis Freitag. Thumbs up.«
    Damit erhob er sich, grinste erneut und streckte mir seine rechte Faust mit abgespreiztem Daumen entgegen, bevor er davon trottete. Mein Blick wanderte wieder zu der hellgrauen Metalltür. Doch sie war verschlossen. Das Pärchen war verschwunden.
    Ich schrieb den Aufsatz für Miss Goldensons Filmseminar zu Ende. Dann machte ich mich auf den Weg in den Buchladen, um mir die Romane für Barstows Seminar zu besorgen. Am Ausgang der Bibliothek fiel mir ein Plakat auf. Hillcrest Talent Lectures stand in großen Lettern darauf zu lesen. Darunter waren sieben Köpfe abgebildet. Es war der vierte von oben, an dem mein Blick hängen geblieben war: David Lavell. Das Foto musste schon älter sein. Die Haare waren kürzer und er trug noch kein Lederband. Department of Comparative Literature/INAT stand daneben. Mellon Fellow. Aus Geldmangel trug er die zerschlissenen Jeans also nicht. Dass Mellon-Stipendien sehr lukrativ waren, wusste ich noch aus meiner Highschool-Zeit. Es folgte eine Kurzbiografie. Geboren 1961 in Portland, Oregon, las ich. Er war nur zwei Jahre älter als ich und schon so gut wie promoviert! Als akademische Stationen waren Cornell und Yale genannt.
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