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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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noch.«
    »Mit Rollwende?«
    »Nein. Tut mir leid. Deine Lektion hat nicht lange vorgehalten.« Sie lächelte. Ich schaute ihr in die Augen. Sie wich rasch meinem Blick aus und saugte wieder an ihrem Strohhalm. Ich bemerkte, dass andere Männer Janine interessiert anschauten. Genau wie damals, wenn wir irgendwo essen waren oder spazieren gingen. Natürlich hatte ich jetzt den Pool vor Augen, das herrliche Sonnenlicht, wenn man in den nicht überdachten Teil hinausschwamm. Dort hatte das alles angefangen: der Flirt mit ihr, meine Neugier auf David. Meine Bewunderung für Marian und ihren Kreis.
    »Wohin fliegst du morgen?«, wollte ich wissen. »Zurück in die Staaten?«
    »Nein, ich muss nach Zürich, noch einen Vortrag halten. Danach fahre ich für ein paar Tage an den Gardasee. Nächste Woche muss ich nach Chicago zurück. Und du? Was machst du den Sommer über?«
    Ein paar Tage am Gardasee. Würde sie dort den Mann treffen, für den sie bei Dries van Noten eingekauft hatte?
    »Wahrscheinlich fahre ich nach Sizilien«, sagte ich, »mein Italienisch auffrischen.«
    Wir verstummten wieder. Ob sie das Gleiche dachte wie ich? Es wollte uns nicht recht gelingen, über die Gegenwart zu plaudern. Und über die Vergangenheit noch viel weniger. Wir hatten schon vor siebzehn Jahren keine Worte gefunden, um den Riss zwischen uns wieder zu kitten. Wozu es also jetzt noch einmal versuchen? Der Riss war ja auch gar nicht zwischen ihr und mir verlaufen. Er war durch mich selbst gegangen.
    Kurz darauf brachen wir auf. Ich holte meinen Wagen aus der Tiefgarage und sammelte Janine mit ihrem Gepäck vor ihrem Hotel auf. Sie nutzte die knapp halbstündige Fahrt über die Autobahn zu einem längeren Telefongespräch mit irgend-jemandem in Zürich und berichtete dann über Universitätsinterna, die mich nicht interessierten, aber mir dennoch willkommen waren, weil sie das beredte Schweigen zwischen uns füllten. Auf halber Strecke passierten wir Mechelen. Ich war kurz versucht, abzufahren und einen ungeplanten Stopp einzulegen, unterließ es jedoch. Zwanzig Minuten später erreichten wir Zaventem. Ich setzte sie am Flughafenhotel ab. Nachdem wir uns die Hände geschüttelt hatten, blieb Janine noch einen Moment lang stehen. Es war ein merkwürdiger Augenblick verlegener Vertrautheit, an den ich noch jetzt oft zurückdenke.
    Dann saß ich im Wagen, unfähig, einfach nach Brüssel zu fahren. Ich lenkte den Wagen wieder zurück in Richtung Antwerpen, verließ in Mechelen-Nord die Autobahn und erreichte die Dossin-Kaserne gegen halb sechs. Das jüdische Deportations-und Widerstandsmuseum, das im Ostflügel untergebracht war, hatte noch eine halbe Stunde geöffnet. Ich kannte die Ausstellungsräume von früheren Besuchen. Wie immer blieb ich die längste Zeit vor der Galerie der Kinderfotos stehen und lauschte der Stimme aus dem Lautsprecher, die die Namen verlas. Im Hof dieser Kaserne war die jüdische Bevölkerung Belgiens zwischen 1942 und 1944 zusammengetrieben und nach Auschwitz deportiert worden. Achtundzwanzig Güterzüge, alles säuberlich registriert in ebenso vielen Aktenordnern. Ich schaute von Foto zu Foto, in die fragenden, ernsten Augen von vier-, fünf- oder sechsjährigen Kindern. Die Dokumente, mit denen man sie herbeordert hatte, waren ebenfalls ausgestellt. Arbeitseinsatzbefehl Nr. 5687. Frau Lea Warth, Antwerpen, Wolfstrasse 32. Mit sofortiger Wirkung gelangen Sie zum Arbeitseinsatz. An Ausrüstungsgegenständen sind mitzubringen: Verpflegung für 14 Tage...
    Ich starrte auf einen Monitor, auf dem immer wieder die gleiche Sequenz zu sehen war, gefilmt im Innenhof der Dossin-Kaserne: Ein Soldat treibt eine Frau und ihr vielleicht vierjähriges Kind mit Fußtritten und Gewehrkolbenschlägen vor sich her. Die Frau stürzt. Ihr Kind klammert sich an sie. Der Soldat reißt das Kind hoch und treibt es mit brutalen Schlägen von der Mutter weg. Die Mutter erhebt sich, taumelt benommen auf eine Gruppe wartender Frauen zu. Das Kind versucht, wieder zu seiner Mutter zu laufen. Der Soldat schlägt auf das Kind ein. Schwarz.
    An der Wand daneben hingen Karikaturen von Juden aus den damaligen Tageszeitungen. Unter anderem aus dem Soir Vole.
    Um sechs Uhr schloss das Museum. Ich ging in den Kasernenhof und setzte mich auf eine Bank. Es war ein milder Sommerabend. Von allen Menschen hätte ich jetzt am liebsten mit Theo geredet. Über Kleist und die Utopie vom zweiten Sündenfall, der uns unsere Unschuld zurückgibt. Oder über das
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