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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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besetzten Hunderte DDR-Bürger die deutsche Botschaft in Prag. Aber ich erlebte den Fall der Mauer bereits aus einiger Ferne, denn ich hatte mein Studium schon bald nach meiner Rückkehr abgebrochen und arbeitete als Englisch-Übersetzer in einem Büro in Zürich. Wenig später zog ich nach Genf, brachte meine Französischkenntnisse auf ein ausreichendes Niveau und absolvierte in den folgenden drei Jahren eine Dolmetscherausbildung. Danach lebte ich vorübergehend in Paris, verbrachte jedoch die meiste Zeit in Brüsseler und Straßburger Hotels, weil es bei den europäischen Institutionen die meiste Arbeit gab. Die europäische Union vergrößerte sich ständig. Für Leute wie mich gab es Arbeit ohne Ende. Eine Weile lebte ich in Spanien, danach in Italien.
    Meine Tätigkeit empfand ich als Befreiung. Ich folgte den Gedanken und Ideen anderer Menschen und blieb selbst davon völlig unberührt. Ich sprach als spanischer Veterinär oder als britischer Sachverständiger für Tierseuchen, als französischer Botschaftsattache oder als irischer Zollexperte. Oft, wenn ich nach einer Zigarettenpause in die Dolmetschkabine zurückkehrte, erschienen mir die Sätze, die meine Kollegin gerade ins Mikrofon sprach, ebenso absurd wie poetisch: Bewurzelte Stecklinge und Jungpflanzen - ausgenommen Kakteen -sind unter der gleichen KN-Gruppennummer einzureihen. Für bewurzelte und bepfropfte Reben aus Nicht-Anhang-2-Ländern gilt keine Gruppenfreistellung. Wenn ich Begriffe wie Faulbrut und Diastaseindex, Abferkelbuchten und gerüstete Sauen im Mund führte, hatte ich das Gefühl, am Vorabend rasch erlernte Zauberwörter ins Mikrofon zu sprechen, die mir die Türen zu völlig fremden Welten öffneten. Die Konferenzthemen konnten mir gar nicht abseitig genug sein. Das alles betäubte das abgrundtiefe Gefühl von Fremdheit in mir, das Hillcrest in mir hinterlassen hatte.
    Als 1992 De Vanders frühe Schriften und ein Sammelband mit Aufsätzen zum Thema erschienen waren, hatte Theo mir die beiden Bände spontan zugeschickt. Zur Erinnerung an Dein Fegefeuer, stand stellvertretend für eine Widmung auf einer Karte, die obenauf lag.
    Theo war der Einzige von damals, mit dem ich in Kontakt blieb. Einmal hatten wir beide in Frankfurt zu tun und verbrachten einen Abend zusammen.
    »Du bist mit dieser ganzen Geschichte noch nicht fertig«, sagte er. »Irgendwann wirst du sie erzählen müssen.«
    »Als Gerda dir das vorgeschlagen hat, hast du gesagt, das sei eine Schnapsidee«, widersprach ich.
    »Für mich, ja. Aber mich hat diese Sache nicht so verändert wie dich. Deshalb musst du da noch einmal durch. Davon bin ich überzeugt.«
    »Und dann?«
    »Dann wirst du schon sehen.«
    Wir trafen uns nicht oft. Meistens verging mehr als ein Jahr, bevor sich unsere Wege irgendwo kreuzten. Theo lebte mittlerweile wieder in Hamburg. Immer wenn ein neuer Roman von ihm erschien, schickte er mir ein Exemplar, und über E-Mail tauschten wir unsere Gedanken aus. Er war mittlerweile ein recht erfolgreicher Schriftsteller geworden, allerdings mit einer ganz anderen Strategie, als er ursprünglich geplant hatte. Anstatt auf Englisch zu schreiben, hatte er Anfang der Neunziger jähre auf einen neuen Trend gesetzt und damit begonnen, Schwedenkrimis zu veröffentlichen. Sein weibliches Pseudonym springt einem regelmäßig von den Bestseller-Tischen der Buchhandlungen ins Auge.
    Irgendwann begann ich tatsächlich damit, mir Notizen über unsere Zeit in Hillcrest zu machen. Auslöser dafür waren fast immer Zeitungsartikel oder Diskussionen in Kulturmagazinen. Es war nie von De Vander selbst die Rede, aber ich hatte zunehmend das Gefühl, überall das Echo seiner Gedanken herauszuhören. Das Ende der Geschichte wurde ausgerufen. Ständig war von Strukturen die Rede, von Netzen, von Beziehungen und Gegensätzen, die austauschbar schienen. Es gab keine unmöglichen Vergleiche mehr. Es gab nur noch Strukturen und Codes, Kommentare, die sprachlos wirkten und sprachlos machten.
    Bevor wir uns das nächste Mal trafen, schickte ich Theo meine Aufzeichnungen zu. Seine Reaktion kam postwendend. »Ein schöner Bericht«, schrieb er mir. »Aber leider hast du nur aufgeschrieben, wie es war.«
    »Soll ich vielleicht erzählen, wie es nicht war?«, fragte ich ihn, als wir uns ein paar Tage später bei ihm zu Hause gegenübersaßen.
    »Du sollst die Wahrheit schreiben«, erwiderte er. »Nicht die Fakten aufzählen.«
    »Aha. Und wie soll das funktionieren?«
    »Denke an Kleist und
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