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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Holländerin mit perfektem Deutsch, betrat die Kabine am dritten Konferenztag in nicht besonders guter Stimmung. Sie hatte ein paar Jahre lang Biologie, Physik und Volkswirtschaft studiert, bevor sie in diesen Job hineingerutscht war. Von feministischer Theorie wusste sie jedenfalls nicht viel. Die Referate lagen ihr nicht, und entsprechend war ihre Laune. Mir fiel das Thema auch nicht gerade leicht, und ich war froh, dass der dritte Konferenztag nur bis mittags dauern würde. Aber ich konnte mich an diese Sprache noch erinnern. Ja, ich hatte manchmal das Gefühl, wieder in Marians Seminar zu sitzen. Und wie zur Bestätigung erschien am späten Vormittag plötzlich Janine am Rednerpult.
    Ich erkannte sie sofort. War sie etwa die ganze Zeit schon hier gewesen? Der Moderator stellte sie vor. Ich machte meiner Kollegin sofort ein Zeichen, dass ich diesen Vortrag übernehmen wollte, und schaltete auch gleich mein Mikrofon ein. Marieke musterte mich überrascht, lehnte sich dann jedoch erleichtert zurück, als sie erkannte, dass ich ihr einen dieser nebulösen Vorträge auch noch freiwillig abnahm. Ich begann zu arbeiten, den Blick auf Janine geheftet, als ob sie mich hören könnte. Sie erschien mir noch attraktiver als damals. Sie trug einen hellgrauen Hosenanzug und einen hochgeschlossenen, schwarzen Rollkragenpulli, was ihr ausgezeichnet stand. Der Moderator beendete seine Einleitung, und im nächsten Augenblick hatte ich ihre vertraute Stimme im Ohr.
    Dear friends.
    Sie entschuldigte sich dafür, dass sie erst heute hatte kommen können, und begann mit ihren Überlegungen zum Thema. Nach einigen Minuten bemerkte ich, dass Marieke mich skeptisch betrachtete. Dolmetschte ich vor lauter Aufregung schlecht? Sprach ich zu schnell? Diese Gefahr bestand bei gutem Englisch ja immer. Oder machte ich Fehler? Sollte ich mehr raffen? Ich ließ Janine mehr Vorlauf und konzentrierte mich ein wenig mehr auf meine eigenen Sätze. Was sie sagte, war nicht besonders schwierig oder abstrakt. Janine sprach von der angeblichen Freiheit westlicher Frauen und der vorgeblichen Unterdrückung von Frauen im Islam. Sie vertrat die These, dass der Verschleierungszwang in manchen arabischen Ländern strukturell das Gleiche sei wie der Pornografiezwang im Westen. Der Westen, so argumentierte sie, sehe nur die Gewalt in der verschleierten Muslimin, sei aber blind für die Gewalt des voyeuristischen Blicks in westlichen Ländern.
    Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Marieke den Kopf schüttelte. Lag das an mir? Hatte ich einen Fehler gemacht? Ich drehte die Lautstärke etwas hoch. Nein, ich verstand genau, was Janine sagte. Soeben erörterte sie die symbolische Bedeutung der Beschneidungspraxis und Klitorisverletzung in manchen islamischen Gesellschaften. Dann versuchte sie darzulegen, dass diese Form der weiblichen Kastration strukturell mit Schönheitsoperationen und Selbstverstümmelungsphänomenen in westlichen Ländern vergleichbar sei. Am Ende ihres Vortrags kam sie zu dem Schluss, dass die Situation für die Frauen im Westen vielleicht sogar die schlimmere sei. Einer altmodischen, aber leicht durchschaubaren Unterdrückung im Islam stehe eine heimtückische Vergiftung der westlichen Frau durch falsche Selbstbilder gegenüber, gegen die Frauen so gut wie machtlos seien.
    Ich schaltete das Mikrofon aus und lehnte mich erschöpft zurück. Meine Kollegin blickte finster vor sich hin.
    »War ich so schlecht?«, fragte ich unsicher.
    »Du? Wieso? Du warst super. Aber diese Tussi hat ja wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank.«
    Ich beobachtete, wie Janine zu einer der vorderen Reihen ging. Ein Mann erhob sich, nickte ihr anerkennend zu, und gemeinsam setzten sie sich wieder hin.
    Ich ließ die beiden bis zum Ende des Vormittags nicht mehr aus den Augen. Ich dolmetschte die Abschlussrede eines Stadtoberen, der, anstatt sich seiner Muttersprache zu bedienen, ein derart verhunztes Englisch sprach, dass selbst die englischen Muttersprachler im Saal bisweilen fragende und ratlose Blicke miteinander wechselten. Ich überließ Marieke den organisatorischen Abspann und ging ins Foyer, bevor der allgemeine Aufbruch einsetzte. Dort erwartete ich sie.
    Es dauerte fast zehn Minuten, bis sie erschien. Sie unterhielt sich angeregt mit dem Mann, der neben ihr gesessen hatte. War das vielleicht ihr Ehemann? Ich ging auf sie zu. Sie schaute auf und erkannte mich sofort.
    »Matthew?«, rief sie überrascht.
    Der Mann neben ihr musterte mich neugierig.
    »Hi,
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