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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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das Marionettentheater. Genau das solltest du tun: ein zweites Mal vom Baum der Erkenntnis essen und dann den Dingen ihren eigentlichen Namen, ihren Sinn geben.«
    »Wie im Märchen?«, fragte ich.
    »Von mir aus. Aber besser in einem Roman.«
    »Schade, ich dachte, ich hätte das Wichtigste gesagt.«
    »Nein. Das Wichtigste hast du weggelassen. Wo steht zum Beispiel, dass du in Hillcrest gestorben bist? Denn das ist doch die Wahrheit, oder?«
    Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.
    »Hillcrest war dein Fegefeuer«, fuhr Theo fort. »Das hast du selbst einmal gesagt. Ein Feuer, in dem sich die Idole deiner Studentenzeit vollständig korrumpiert haben. Aber wo ist von dir die Rede? Wenn ich an diese ganze Geschichte denke, weißt du, was ich dann vor mir sehe?«
    Ich schaute ihn schweigend an.
    »Das brennende De-Vander-Archiv«, sagte er. »David natürlich. Janine ist in der Nähe. Und du bist da auch irgendwo. Aber wo? Wo bist du?«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    »Ich bin kein Autor, Theo«, erwiderte ich.
    »Kein Autor? Was soll denn das heißen? Ich dachte, der Autor ist tot. Gott ist tot. Der Autor ist tot. Das Subjekt ist tot. Die Geschichte ist zu Ende. Waren das nicht die Slogans, die dich nach Hillcrest gelockt haben? Die großen Unschuldsund Erlösungsversprechen?«
    »Ja. Schon. Leider.«
    »Warum leider? Das ist mir zu billig. Was hast du daraus gemacht? Was hat es aus dir gemacht? Dreh die Geschichte um. Spiel damit. Aber richtig. Damit fing doch in grauer Vorzeit alles an, als Kunst und die Philosophie noch eins waren, bei Piaton und der doppelten Mimesis. War das vielleicht nicht die größte Freiheit? Piaton, der uns weismachen will, dass es für die Wahrheit gefährlich sei, wenn man sie mit verstellter Stimme ausspricht. Und der doch genau dies tun muss, weil es anders nämlich gar nicht geht. Nicht weil es keine Wahrheit gäbe, sondern weil die Wahrheit immer den Umweg über die Kunst gehen muss.«
    Ich musste unwillkürlich an Marian denken, den blitzenden Ausdruck in ihren Augen, während sie uns eine ihrer unvergesslichen Lektionen erteilte: Denkt doch mal nach! Wer spricht? Es geht immer wieder nur um diese Frage. Es ist DIE Frage schlechthin. Wer spricht? Theo hatte sich unterbrochen und schaute mich erwartungsvoll an.
    »Für Marian war das auch die Frage aller Fragen«, sagte ich. »Wer spricht?«
    »Und? Wie hat sie sie beantwortet?«
    »Gar nicht. Für sie war Piatons Text die perfekte Allegorie auf die Unlösbarkeit dieser Frage. »
    »Genau das ist der Fehler«, rief Theo erregt. »Diese Leute verstehen einfach nicht, dass Literatur keine Lösung von uns fordert.«
    »Sondern.«
    »Ein Haltung. Aus der Frage, wer spricht, muss irgendwann die Frage werden: Wer bist du?«
    Theos Kommentare beschäftigten mich. Ich begann eine zweite, ganze andere Fassung zu schreiben. Manchmal schickte ich ihm kurze Szenen oder Entwürfe von Kapiteln zu. Auch hatte ich plötzlich das Bedürfnis herauszufinden, was aus meinen damaligen Mitstudenten und ehemaligen Lehrern geworden war. Ich verbrachte einige Tage in der Bibibliothek und suchte nach Informationen über sie. Ich fand heraus, dass John Barstow 1998 eine Studie über Don DeLillo und Winfried im Jahr darauf ein weithin gerühmtes Buch über David Humes Einfluss auf die amerikanische Revolution geschrieben hatte. Ich konnte nachlesen, wer mittlerweile an welcher Universität unterrichtete. Über Marian war vermerkt, dass sie seit 2002 in Boston lehrte, und es gelang mir auch ohne große Mühe herauszufinden, welche Artikel Julie Verassi oder Mark Hanson in letzter Zeit publiziert hatten. Von Doris oder Gerda fand ich keine Artikel und schloss draus, dass sie wie ich die Branche gewechselt hatten. Mit besonderer Neugier und leichtem Herzklopfen schlug ich natürlich auch Janines Namen nach. Sie war regelmäßig mit Aufsätzen, als Herausgeberin von Sammelbänden und in etwas größeren Abständen auch immer mal mit einem neuen Buch vertreten. In einer Eintragung stand zu lesen, dass sie mittlerweile Direktorin für Intercultural Studies an der Universität von Chicago geworden war.
    Wissenschaftler verbringen viel Zeit auf Konferenzen. Insofern war es nicht einmal so außergewöhnlich, dass wir uns noch einmal begegneten. Merkwürdig war nur, dass dies ausgerechnet in Belgien geschah, auf einer Konferenz über »Frauen im Islam«, die im Juni 2005 von der Universität Antwerpen ausgerichtet wurde. Meine Kollegin Marieke, eine junge
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